30 Jahre Unabhängigkeit Bosniens - Wiederholt die Welt ihre Fehler in der Ukraine?





Der 24.02.2022 wird als schwarzer Tag in die Weltgeschichte eingehen. Manche schreiben es sei der Tag, an dem der Krieg das erste Mal nach der Katastrophe des zweiten Weltkrieges nach Europa zurückgekehrt sei. Doch das ist eine Geschichtsvergessenheit, die vielen Menschen gerade unnötig zusätzliche Schmerzen bereitet. Denn fünf Tage nach diesem schwarzen Tag feiert ein Land seine 30-jährige Unabhängigkeit, welches die Schrecken, die die Ukraine gerade durchleiden muss, sehr gut kennt, welches sich aufgrund der aktuellen Entgleisungen erneut in Gefahr wähnt und welches sogar seine Landesfarben mit der Ukraine teilt: Bosnien-Herzegowina.

Was für die Ukraine der 24.02.2022 ist, sind für Bosnien die Tage zwischen 4. Und 7. April 1992. Serbische Angriffe geschahen gezielt zum Fest des Fastenbrechens, weshalb diese Tage auch als „blutiger Bajram“ in die bosnische Geschichte eingingen. Was darauf folgte, waren dreieinhalb Jahre von unvorstellbarer Gewalt, sog. „ethnischen Säuberungen“, systematischen Massenvergewaltigungen, erbarmungslosen Belagerungen (jene von Sarajevo etwa war die längste in der modernen Geschichte) und Völkermord.

Während wir die Anfänge eines Krieges in der Ukraine beobachten, müssen wir uns die historischen Lektionen aus Bosnien (erneut) vor Augen führen, denen nach, wie bereits nach dem zweiten Weltkrieg und der Shoah, ein „Nie wieder“ proklamiert wurde – offenbar erneut folgenlos.

Die Menschen in Bosnien verfolgen die Situation in der Ukraine gerade ganz genau. Einerseits, weil in Serbien und dem serbischen Landesteil in Bosnien mit Russland verbündete Nationalisten an der Macht sind, die seit Sommer letzten Jahres die größte Staatskrise in Bosnien nach Kriegsende ausgelöst haben (mehr dazu hier), immer offener mit Abspaltung drohen und sich durch das Vorgehen Russlands (insb. die Anerkennung der sog. „Volksrepubliken“ in der Ostukraine) bestärkt sehen könnten. Andererseits weil sie die Meldungen getöteter Zivilisten und Kinder, die Bilder flüchtender Menschen, beschossener Hochhäuser, in Kellern geborener Kinder, die Kaltblütigkeit der Mächtigen und die Hilflosigkeit des Westens retraumtisieren. Es gibt unzählige Parallelen, die sich den Menschen in Bosnien und der Diaspora regelrecht aufdrängen. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes, mit historischen Vergleichen immer vorsichtig sein zu müssen, möchte ich versuchen einige (!) davon auszuführen, bevor ich zu den Konsequenzen komme, die meines Erachtens aus diesem Vergleich resultieren müssen.

1. Aggression auf einen souveränen Staat vor den Augen der Weltöffentlichkeit

In westlichen Diskursen ist die Einordnung des Bosnienkrieges als Bürgerkrieg beliebt. Und auch wenn es Elemente eines Bürgerkrieges gab, wie etwa ehemalige Nachbarn, die gegeneinander kämpfen, ist diese Version stark verkürzend. Heute vor 30 Jahren entschieden sich 99,4% der Wahlbeteiligten (bei 63,4% Wahlbeteilung) in Bosnien für die Unabhängigkeit von einem durch Slobodan Milošević dominierten Jugoslawien. Die internationale Anerkennung dieser Unabhängigkeit war für die serbischen Nationalisten, die Gesellschaft und politische Macht fest im Griff hatten, das letzte Signal zum Angriff. Auf einen Staat, der also bereits souverän und war. Das ist keine politische Pingeligkeit, sondern ein entscheidender Unterschied. Das framing als Bürgerkrieg dient bis heute zur Relativierung von Verbrechen und historischer Fakten. Das Milošević-Regime konnte immer sagen, in Bosnien kämpften ja nur bosnische Serben gegen Nicht-Serben, sein Staat habe damit nichts zu tun. Es gibt jedoch unzählige Dokumente, die das Gegenteil beweisen: die offizielle jugoslawische Volksarmee (welche in den 1980ern zu den mächtigsten der Welt gehörte und in deren Führungsriege Serben überrepräsentiert waren) kämpfte in Bosnien, es gab Artilleriebeschuss über den Grenzfluss Drina und Gefangenenlager auf serbischem Staatsgebiet, das serbische Innenministerium organisierte Freischärler, Milošević unterstützte die bosnischen Serben ideologisch, politisch, logistisch. Die serbischen Nationalisten betrachteten sich immer als Einheit, die für Irredentismus in einem Großserbien kämpft. Die Grenze, die sie überschritten haben, existierte für sie nicht. Es macht deshalb also auch wenig Sinn, auf eine Weise zwischen bosnischen Serben und Serben aus Serbien zu trennen, die darauf hinausläuft, dass in Bosnien ein reiner Bürgerkrieg stattfand. Die Bosnier legen deshalb besonderen Wert darauf, den Krieg als Aggression zu bezeichnen.

Eine solche Aggression sehen sie nun auch auf die Ukraine. Auch noch durch Russland, ein Land, das im Bosnienkrieg ein wichtiger Akteur war. Das die Serben verteidigte, immer wieder UN-Resolutionen verhinderte, aus dem Kämpfer kamen, die an der Seite der Serben kämpften. Folgerichtig unterstützen kriegserfahrene serbische Freischärler die Russen im Krieg in der Ostukraine. Sie brachten eine Ikone mit, die Milorad Dodik (die Galionsfigur bosnisch-serbischer Nationalisten) 2020 dem russischen Außenminister Sergej Lawrow schenkte, als dieser Bosnien besuchte. Da es sich um gestohlenes Kulturgut aus der Ostukraine handelte, entstand ein diplomatischer Eklat (mehr dazu hier).

Ebenso wie es Putin in seiner wirren Rede tat, legitimierten die Serben ihre Aggression: Den Staat, den sie angreifen gibt es gar nicht, das Volk, das längst eine eigene Identität hat, soll sich ihnen unterordnen oder maximal vertrieben und auf winzigem Territorium toleriert werden. Der mittlerweile verurteilte Kriegsverbrecher Radovan Karadžić fasste es bereits 1992 im bosnischen Parlament zusammen: „Glaubt nicht, dass ihr Bosnien-Herzegowina nicht in die Hölle und das muslimische Volk vielleicht ins Verschwinden führen werdet, denn es kann sich in einem Krieg nicht verteidigen!“.

2. Parastaaten, Phantasiegrenzen

Insbesondere die sogenannten Volksrepubliken in der Ostukraine weisen bemerkenswerte Parallelen zu den serbischen Parastaaten Republika Srpska Krajina in Kroatien und Republika Srpska in Bosnien auf. Dies ist der viel passendere Vergleich als jener mit dem Kosovo, der gerade häufig von Unterstützern oder Apologeten des russischen Überfalls unter Verkürzung entscheidender Fakten hervorgebracht wird (Mehr dazu hier)

Zu Beginn des Bosnienkrieges im April 1992 begann in vielen Teilen Bosniens, besonders in Ostbosnien an der serbischen Grenze, eine organisierte und lange vorbereitete Kampagne der militärischen Aggression serbischer Kräfte. Diese bestanden aus jugoslawischer Volksarmee (oder was von ihr übrig war), lokalen Milizen der serbischen demokratischen Partei, die systematisch die serbische Zivilbevölkerung aufstachelte und bewaffnete und besonders brutalen Freischärler-Einheiten, etwa unter dem berüchtigten Kriminellen Željko Ražnatović. Sie umstellten Dörfer und Städte, verlangten eine „Kapitulation“ und Waffenübergabe der Nicht-serbischen (v.a. bosniakischen) Bevölkerung und eine totale Kontrolle über die lokalen Verwaltungen, deren Grenzen völlig neu gezogen wurden. Viele waren hinsichtlich der militärischen Dominanz der Serben derart verängstigt, dass sie den Befehlen folgten und insb. durch die „freiwillige“ Entwaffnung ihre spätere Verteidigungsfähigkeit bedeutend schwächten. Immer mehr Menschen begannen in dieser Zeit zu flüchten, sodass die ethnische Säuberung aus Sicht der Serben praktisch von selbst voranschritt. Wo immer die Bosniaken jedoch den geringsten Widerstand leisteten oder auch nur Ultimaten verstreichen ließen, wurde eine Stadt zunächst mit Artillerie beschossen, woraufhin die Serben, mit den Freischärlern an der Spitze, einmarschierten. Danach folgten schreckliche Kriegsverbrechen, manchmal wurden Dörfer gleich in Gänze dem Erdboden gleichgemacht. Obwohl es in der Anfangszeit noch Verhandlungen gab (die oft an nicht-hinnehmbaren Maximalforderungen der Serben oder ihrem schlichten Nichterscheinen scheiterten) war spätestens zu Beginn der Kampfhandlungen klar, dass hier keinerlei demokratischer oder politischer Prozess mehr im Gang ist, sondern es sich schlicht um eine gewaltsame militärische Raumnahme handelte. Die so angeeigneten Gebiete wurden später zur Republika Srpska zusammengefasst, welche im Dayton-Vertrag legitimiert wurde und bis heute existiert, welche ihre separatistischen Bestrebungen nie aufgegeben hat und welche der Hauptgrund für die praktisch seit Kriegsende anhaltende Staatskrise in Bosnien ist, die aktuell wieder besonders aufflammt.

Analog dazu müssen die sogenannten Volksrepubliken in der Ukraine als unrechtmäßige Pseudostaatsgebilde verstanden werden. Im deutschen Diskurs tauchen Stimmen auf, die in einem kontextlosen Diskursraum - sozusagen auf Metaebene - abwägen, warum die Unabhängigkeitsbestrebungen dieser Gebiete denn nicht legitim sein sollen, wenn sie denn angeblich von den Menschen gewünscht seien. Von einem fairen demokratischen Prozess, der dies ergeben hätte, kann indes keine Rede sein. Die sogenannten Volksrepubliken sind seit Jahren rechtlose Gebiete, in der durch nichts legitimierte Banden mit Gewalt Fakten schaffen, Menschen entführen und foltern, in denen seit langem keine unabhängige Berichterstattung möglich ist. Dies kann keine Grundlage für Sezession aus einem Staatengebilde sein, bei dem es immer eines komplexen politischen Prozesses und internationaler Anerkennung bedarf, wenn sie legitim sein soll.

In beiden Fällen ist eine Trennung zwischen der Schutzmacht, dem tatsächlichen Aggressor, dem Nachbarland, das annektieren möchte und den Separatisten nur in begrenztem Rahmen möglich oder sinnvoll. Effektiv muss man diese jedoch als eine Kriegspartei verstehen. Tatsächlich kann eine Trennung gar verschleiern, mit welchen Machtverhältnissen man es tatsächlich zu tun hat, wie ich am Beispiel des Bürgerkriegs-framings erklärte.
 

3. Enttäuscht durch angebliche Wertegemeinschaften  

 
Was man in den letzten Tagen immer wieder vernimmt und was für bosnische Überlebende, Zeitzeugen und ihre Nachfahren besonders unerträglich ist, ist das flehentliche Klagen der Ukrainer nach internationaler Hilfe. Die Bosnier erinnern sich an die unzähligen Appelle, Konferenzen, auch Solidaritätsbekundungen und politische Gesten, die am Ende die jahrelange Gewalt trotzdem nicht verhindern konnten. Bereits früh im Krieg setzte sich bei den Bosniern immer mehr der Gedanke durch: „Wir sind auf uns alleine gestellt, niemand wird uns helfen und wenn wir nicht für unsere Selbstbestimmung kämpfen, werden wir vernichtet“ (wie Karadžić es ja unverhohlen angedroht hatte). Eine Liedzeile des berühmte bosnischen Sängers Dino Merlin bringt diesen Gedanken auf den Punkt: „ne bude li Bosne tada neće biti ni nas“ – „Gibt es kein Bosnien, wird es auch uns nicht geben“. Ein Gedanke, den wir in den letzten Tagen von ukrainischer Seite immer wieder vernehmen. Spätestens seit im letzten Kriegsjahr in der UN-Schutzzone Srebrenica ein Völkermord begangen wurde, sind die Bosnier gebrannte Kinder, was das Vertrauen in die internationale Gemeinschaft oder sonstge angebliche Wertegemeinschaften angeht. Die Institutionen der UN waren damals – das soll hier nochmal betont sein – insbesondere von Russland blockiert. Aber auch etwa von Seiten Frankreichs hatten die Serben, als alte verbündete des ersten Weltkrieges, gewisse Unterstützung. Es war etwa der französische General Bernard Janvier, der verhinderte, dass der Völkermord von Srebrenica mit NATO-Luftschlägen aufgehalten wird. Unvergessen bleibt in Bosnien auch der ambivalente Besuch Sarejvos 1992 des damaligen französischen Präsidenten François Mitterrand, der zwar die Wiedereröffnung des Flughafens für humanitäre Hilfe erreichte, aber weitere westliche Intervention noch unwahrscheinlicher machte. Er glaubte offenbar dem notorisch pro-serbischen General McKenzie die Bosniaken würden sich selbst beschießen und Verbrechen inszenieren und traf sich daraufhin mit den bosnischen Serben, während er die bosnischen Beweise für Konzentrationslager nicht ernst nahm (mehr dazu hier).Wo soll man also, wenn man die Welt in geopolitischen Blöcken betrachtet, die Schuld für diese Menschheitsverbrechen verorten? Dies führt uns zum nächsten Punkt. 
 

4. Internationale Nationalisten, verirrte Linke und bizarre Querfronten

Für manche ist die Antwort auf die obige Frage ganz klar: Schuld ist immer der Westen. An diesem Punkt treffen sich Gegner der liberalen, parlamentarischen Demokratie verschiedenster Couleur, die sich eigentlich spinnefeind sind. Das System Putin steht für militanten Autoritarismus und Nationalismus, Raubtierkapitalismus, Repression einer progressiveren Opposition, Queerhass etc. Für eine internationale Achse des Rechtspopulismus und Neofaschismus ist Putin genau deshalb seit langem ein Held, der eine Art von Staatlichkeit und Machtausübung verkörpert, die sie bewundern und anstreben. Auch wenn sich etwa LePen oder die AfD gerade hastig zu distanzieren versuchen, ist diese jahrelange Traditionslinie nicht zu übersehen. Andere stehen gar bis jetzt unverhohlen hinter Putin.

Persönlich viel stärker bestürzt mich, als jemanden, der sich selbst als links versteht, jedoch die Verirrtheit einiger linker Strömungen. Obwohl das System Putin für o.g. steht und damit fundamentalsten linken Prinzipien diametral widerspricht, zaudern manche Linken noch immer. Sarah Wagenknecht etwa behauptete bei Anne Will einen Tag vor dem russischen Überfall, er wäre längst passiert, wenn man ihn wollte, dies sei aber gar nicht der Fall. Es brauchte Tage, bis ein merkbar widerwilliges Eingeständnis von ihr kam, sofort ergänzt um die Bemerkung, man dürfe jetzt aber nicht das einzige tun, was der Ukraine effektiv hilft: nämlich Waffen liefern. Diese kognitiven Dissonanzen lassen sich wohl hauptsächlich durch zwei Ursachen erkläre: Erstens scheint das Weltbild des kalten Krieges noch sehr stark verwurzelt zu sein, in dem nach wie vor klar scheint, wer Genosse und wer ewiger Klassenfeind ist. Zweitens hat die Rolle als ewige Opposition anscheinend einen Reflex entstehen lassen, der es verbietet, die eigenen Regierungen ausnahmsweise nicht als hauptschuldig zu betrachten. Offenbar ist man bereit sich auf fatalste Irrwege zu begeben, um diese Reflexe nicht hinterfragen zu müssen. Was dabei herauskommt, wurde in einer sehr empfehlenswerten Folge des Podcasts Neues vom Balla Balla Balkan als das entlarvt, was es auch aus meiner Sicht ist: Eine Projektion westlicher oder innerlinker Konflikte in Themen, die damit nur begrenzt etwas zu tun haben.

Wir beobachten aktuell Linke, die direkt oder indirekt zu Putin-Apologeten verkommen, indem sie sich in Whataboutisms über Irak und Vietnam verlieren, während das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Parolen des antiimperialistischen Befreiungskampfes Unterdrückter oder das heilige Völkerrecht in Bezug auf die Ukraine plötzlich weniger bedeutsam sind, weil der Aggressor nicht der Westen oder insb. die USA sind. Um das doch noch zu verkehren und in das eigene Weltbild zu pressen, wird die Ansicht über den Westen als Aggressor mit Putin geteilt, der sofort problemlos Frieden schaffen könnte, während russische Truppen ukrainische Städte zerbomben. Ähnlich war in den Jugoslawienkriegen der formell sozialistische Diktator Slobodan Milošević für einige Linke ein Genosse. Dabei konnte jeder, der es wollte, sehen, dass er ein nationalistischer Kriegsverbrecher ist. Besonders tragisch und beispielhaft ist diesbezüglich auch die Position der Koryphäe der amerikanischen Linken Prof. Noam Chomsky. Dieser leugnete serbische Konzentrationslager, um sein Weltbild aufrecht erhalten zu können, in der die von ihm stets kritisierte eigene Regierung auf der bösen Seite steht. 

Besonders auffällig sind diese apodiktischen Schablonen-Narrative auch in Bezug auf antinationale Positionen. Auch ich bin der Auffassung, dass die Linie zwischen so etwas wie „Patriotismus“ und exkludierendem nationalen Chauvinismus grundsätzlich eine verschwommene ist und es sich lohnt auf eine Welt jenseits starrer nationaler Zugehörigkeiten hinzuarbeiten - gerade aufgrund der Lehren aus den Jugoslawienkriegen. Aber nicht nach sozialhistorischer Situation differenzieren zu können (oder wollen) und einem Volk, das um seine Selbstbestimmung kämpft, wegen solcher Grundsatzüberzeugungen die wichtigste Identifikationsgrundlage absprechen zu wollen, auch noch aus der sicheren Ferne – das halte ich für dreist. Die politische Rechte nimmt linke Positionen allgemein als naiv, weltfremd, utopistisch wahr, das lehne ich ab. In diesem speziellen Fall muss ich dem jedoch leider zustimmen.  

5. Alle sind gleich, manche sind gleicher

Am Ende meiner vergleichenden Aufzählung von Parallelen möchte ich doch noch auf einen Unterschied hinweisen, den besonders ehemalige bosniakische Geflüchtete und auch aktuell flüchtende Nicht-Weiße nun in Bezug auf die Flüchtenden aus der Ukraine wahrnehmen: Ist man nicht weiß und christlich, scheinen solidarische Handlungen in Europa insgesamt gesehen deutlich gedämpfter. Es ist eine steile These, die in Bosnien beliebt ist: „Uns wurde nicht geholfen, weil man uns nicht als Europäer, sondern als Muslime sieht“. Ich habe immer gehofft, dies sei nicht wirklich der Fall, treffe nur auf extreme Randgruppen zu. Wenn man aber sieht, wie Polen seine Grenzen für alle Ukrainer öffnet, während Geflüchtete aus Syrien, Irak, Iran oder dem Jemen (inbs. letztere aus einem grausamen Angriffskrieg, der in westlichen Medien absolutes Randthema ist) hinter Stacheldraht erfrieren mussten, drängt sich dieser Gedanke förmlich auf. In der Sendung hart aber fair antwortet Gabor Steingart in diesem Zusammenhang auf eine bereits tendenziöse Frage von Plasberg, diesmal gäbe es mit Geflüchteten keine Probleme wie 2015, denn es seien Christen und „unserem Kulturkreis näher“. So als wäre die internalisierten Ressentiments gegen nicht-europäische Geflüchtete, die dadurch deutlich werden einfach gegeben, kein Problem, oder gar begründet. Danach vergleicht der ehem. Nato-General Hans Lothar-Domröse ukrainische mit syrischen Flüchtlingen und wirft diesen indirekt vor sie seien ja feige, weil sie geflüchtet seien, statt „ihr Land zu verteidigen“. Er reproduziert damit einen Mythos, der seit 2015 unzählige Male durch rechte Blasen in den sozialen Medien wanderte. Wie schlecht man wiederum die Situationen von Geflüchteten vs. Kämpfenden in Syrien und der Ukraine vergleichen kann, führe ich hier nicht aus. Es sei nur gesagt: Die Unterschiede sind signifikant.

6. Was nun? Vergangene Fehler und die Hoffnung auf Lerneffekte

Welche Folgen sollten nun aus den Vergleichen entstehen, die bis hier gezogen wurden, welche Fehler aus Bosnien gilt es in der Ukraine und in der Zukunft zu vermeiden? Leitend sollte meines Erachtens folgende Schlussfolgerung sein: Wenn wir nicht handeln – als Politik und Zivilgesellschaft - folgt unvorstellbares Leid.

Ich habe in Bosnien mit Menschen gesprochen, die in Konzentrationslagern waren, die auf Missionen geschickt wurden, von denen sie sicher waren, dass sie nie zurückkehren, deren Kinder ermordet wurden. Ich habe noch nie mit Menschen gesprochen, die vergewaltigt wurden, obwohl es viele gibt, wahrscheinlich, weil sie dieses Grauen auch 30 Jahre später nicht über die Lippen bringen. Jeder Taxifahrer in Sarajevo hat eine Geschichte zu erzählen, die man sich als Mensch, der in Frieden aufgewachsen ist, nicht ausmalen kann, jede Familiengeschichte hat ihr eigenes Drama, welches teilweise gebrochene Menschen hinterlässt, die sich manchmal wünschen sie wären auch gestorben. So auch meine eigene: Meine Familienmitglieder mussten in Sarajevo leben, das belagert wurde so wie es heute Kyiv wird, sie mussten kämpfen, wurden als Zivilisten verwundet und wissen z.T. bis heute nicht, wo die sterblichen Überreste ihrer Verwandten sind. Das Haus meiner Mutter wurde ausgeplündert und niedergebrannt und in unserem Haus in Sarajevo steckt bis heute eine Kugel in der Wand.

Um zu wissen was zu tun ist, brauchen wir deshalb auch ein klares Bild. Wer meine Texte verfolgt, der weiß, wie sehr ich differenziertes Denken hochhalte, wie sehr ich schwarz-weiß-Schemata ablehne. Und auch diese Situation ist nicht schwarz-weiß. Aber es ergibt sich nach Berücksichtigung der Fakten ein relativ klares Bild von kollektiven Opfern und Tätern, das dann als solches auch benannt werden muss. Menschen, die vor blinder Loyalität, vor Tribalismus warnen, die dazu mahnen Grautöne und alternative Interpretationen zu sehen sind in jeder Gesellschaft wichtig, ich selbst finde mich häufig in dieser Rolle wieder. Jetzt ist aber nicht die Zeit für relativierende Nebendebatten. Wir brauchen gerade keine Intellektuellen, die sich profilieren, indem sie den Diskurs verwässern, ablenken, verunsichern und Lähmung verursachen. Besonders Medienschaffende sind jetzt in der Pflicht kein false balancing zu betreiben. Es ist keine gefährliche Gleichschaltung, Zensur oder Einschränkung der Meinungsfreiheit, solchen Positionen keine Bühne zu bieten, wenn die Fakten derart klar sind. Es ist insbesondere nicht fair oder journalistische Pflicht, Propaganda und Falschinformationen eine Plattform zu geben. Dass wir Russen dabei natürlich nicht in eine plumpe Sippenhaft nehmen sollten, sondern zwischen Regime, Bürger:innen und individuellen politischen Positionen unterscheiden, ist natürlich selbstverständlich.

Ein weiterer fataler Fehler, der in Bosnien begangen wurde, der einer Ansicht entspringt, die auch dieser Tage wieder durch die Diskurse geistert, ist ein falsches Verständnis von Pazifismus. Um den „Konflikt nicht anzuheizen“ wurde ein internationales Waffenembargo verhängt, welches im Endeffekt nur dem Aggressor in die Hände spielte. Es hatte hauptsächlich zur Folge, dass die militärische Überlegenheit der Serben, die sich auf die Angriffspläne ja minutiös vorbereitet hatten, über die gesamte Kriegsdauer relativ unverändert blieb. Die Bosnier mussten sich in der Folge mit Jagdgewehren verteidigen, mit Feuerwerkskörpern Verteidigungsfähigkeit fingieren und Waffen aus Heizungsrohren und zusammengeschweißtem Schrott bauen, die heute in Museen zu bestaunen sind. Dass in der Ukraine nun Waffen an Zivilist:innen verteilt werden ist sicher nicht wünschenswert oder erfreulich, aber unter diesen Umständen das Beste und Rationalste, was die Ukrainer tun können. Die „Zeitenwende“ in der deutschen Sicherheitspolitik, wie Kanzler Scholz sie nannte, scheint ein Anhaltspunkt dafür zu sein, dass diese Erkenntnis auch im politischen Berlin angekommen ist. Ich hoffe, dass sich diese Erkenntnis auch auf einen möglichen (wenn auch Stand jetzt sehr unwahrscheinlichen) internationalen oder Friedenstruppen-Einsatz in der Ukraine ausweitet, der mit einem robusten Mandat ohne falsche Neutralität ausgestattet wird. Das Fehlen eines solchen war nämlich die Hauptursache des Versagens des Bosnien-Einsatzes der Vereinten Nationen UNPROFOR. Ich hoffe auch, dass sich auch in der Linken ein realistischeres Verständnis von Pazifismus durchsetzt und wir beginnen das Konzept der wehrhaften Demokratie global zu denken.

Traumatische Geschichten, wie sie Bosnier überall auf der Welt bis heute heimsuchen, werden während ich diese Zeilen schreibe in der Ukraine neu geschrieben. Jeder und jede, der oder die nicht gehindert ist, sollte sich fragen, was ein persönlicher Beitrag dazu sein könnte, dies zu stoppen. Grundsätzlich gilt das für jedes Leid und jede Kumulation von Leid in Form von Krieg. In der spezifischen aktuellen Situation der Ukraine sind unsere Interventionsspielräume möglicherweise jedoch größer als anderswo, wir sollten sie deshalb auch nutzen. Auf der Parole „nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ ist die internationale Ordnung der Vereinten Nationen aufgebaut. Lasst sie uns endlich richtig verstehen und umsetzen.



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