Silversternacht 2015/16 - In Verteidigung unserer universellen Werte

„Die Stimmung in Deutschland könnte kippen“ ist ein Satz, den man in diesen Tagen immer wieder vernimmt.

Ich frage mich: Könnte sie weiter kippen als über 500 Angriffe auf Asylbewerberheime 2015? Als Björn Höckes deutschnationale Hetzreden? Als Galgen und Angriffe gegen Journalisten auf PEGIDA-Demonstrationen?
Es ist ein äußerst besorgniserregender Ausblick, der uns in diesen Tagen geboten wird und alle Freunde des Rechtsstaates müssen spätestens jetzt noch wachsamer sein als zuvor.

Ich muss an dieser Stelle kaum erwähnen, wie abscheulich und verurteilenswert die sexuellen Übergriffe, Beleidigungen, Angriffe und Diebstähle am Kölner Hauptbahnhof und anderswo in Deutschland in der Silvesternacht waren.
Ich werde in diesem Text jedoch weniger auf die Angriffe selbst, als auf die (zu befürchtenden) Reaktionen eingehen und warnen.
Es lassen sich schon anderswo zahlreiche treffende Aussagen hören und lesen, die sich der sexualisierten Gewalt an Frauen als leider schon vor der Silvesternacht bekanntem Problem widmen und hinterfragen, bis zu welchem Maße der Umstand, dass die meisten Täter nicht Deutsch zu sein schienen, einer gesonderten Diskussion bedarf.

Es liegt bereits Hysterie in der Luft. Vorurteile (auch im Sinne von Vorverurteilungen), emotionalisierte und unvernünftige Reaktionen bis hin zu Gewaltphantasien sind zu vernehmen.

Der Rechtsstaat darf sich davon in keinem Fall beirren lassen. Unbedingt brauchen wir rechtsstaatliche, freie und gleiche Gerichtsverfahren, die sich nicht vom öffentlichen Druck beeinflussen lassen, sondern besonnen und vernünftig ablaufen. Jeder, der laut Deutschem Gesetz eine Straftat begangen hat, muss in einem fairen Verfahren verurteilt werden. Selbstverständlich unabhängig von seiner Herkunft.

Was droht?

Was droht unserem Land, wenn dies nicht geschieht? Wenn der Staat oder einzelne seiner Beamten vor rassistischem und gewaltverherrlichendem Gedankengut einknicken und keine klaren Zeichen setzen?

Zunächst wäre dies ein Verrat an unseren rechtsstaatlichen Prinzipien, unserer Verfassung, unseren Werten, die in diesen Tagen wieder so oft beschworen werden.
Das beginnt schon damit, dass Wirtschaftsminister Gabriel fordert, das Problem krimineller Ausländer einfach auf deren Heimatländer abzuwälzen, wo man in vielen Fällen nur von Rechtsstaatlichkeit und humanen Bedingungen im Strafvollzug träumen kann und dass er auch erwägt, Entwicklungsländer mit Hilfsgeldern zu erpressen.
Die, für alle Leser, die nun die Stirn runzeln, sicher nicht die wohlwollenden Almosen sind, für die sie undifferenzierterweise oft gehalten werden.

Beunruhigend ist auch, wie immer mehr Deutsche sich auf die Seite Horst Seehofers stellen, der Flüchtlinge zu Gästen der Deutschen herabwürdigt (ich frage mich: Wie sind Gast und Gastgeber definiert? Gibt es Mobilität in diesem Konstrukt oder sind die einander untergeordneten Rollen für immer durch Geburt festgelegt), der sich mit Rassisten wie Viktor Orban bestens versteht und der weiter als je zuvor an den rechten Rand gerückt ist, nur um keine Wähler an die noch weiter rechts stehende afd zu verlieren.

Entschlossen in den Weg stellen müssen wir uns auch jüngsten Erscheinungen der Selbstjustiz, die sich keinen kontrollierbaren Regeln unterwirft. In Köln verabreden sich Rocker, Hooligans und sonstige Gruppengefühl-Abhängige und machen einmal mehr Jagd auf Ausländer. So berechtigt Kritik am Staat auch zeitweise sein mag, muss sein Gewaltmonopol verteidigt und in eine humane Bahn gelenkt werden. Wir wollen nicht wie eines der zahlreichen Länder enden, in denen dieses nicht mehr intakt ist.

Wie mit dem Geschehenen umgehen?

Oft wird den Freunden des Rechtsstaates, auch „Gutmenschen“ genannt, vorgeworfen, sie wollen bestimmte Probleme wegdiskutieren, die nicht in ihr Weltbild passten.

Ich leugne an dieser Stelle nicht, dass patriarchalische Züge in bestimmten Kulturen bei den Übergriffen der Silvesternacht und anderen eine Rolle gespielt haben können.
Wir müssen uns aber vorsehen, wie wir mit dieser Erkenntnis umgehen. Zu oft sehen sich Menschen in ihren Vorurteilen bestätigt, die „es sowieso schon immer wussten“. Zu oft werden kompliziert auf die Realität zu übertragende, differenzierte empirische Erkenntnisse falsch interpretiert und zur Verbreitung rechten Gedankengutes instrumentalisiert.

Sicher könnten wir jeden, der aus einem Kulturkreis stammt, dem solches unterstellt wird, in Sippenhaft nehmen, diese Personen gesondert behandelt und Sie öfter kontrollieren (wie es beim racial profiling ohnehin auch schon geschieht – vom Bundesverfassungsgericht geächtet) oder uns gar militärisch vor Zuwanderung abschotten.
Vielleicht hätten wir dann, wie immer man „wir“ auch definiert, als Menschen, die schon eine bestimmte Zeit in Deutschland leben, als Deutsche mit deutscher Staatsbürgerschaft oder als Deutsche mit „deutschem Blut“, weniger Probleme.
Wir als Gemeinschaft freier Erdenbürger würden aber gewiss mehr Probleme und Schuld auf uns laden.
Wir könnten solche Handlungen erwägen und in die Tat umsetzen. Aber zu welchem Preis?

Die einzige vernünftige Reaktion, und mag es auch noch so gebetsmühlenartig klingen, kann eine bessere Integration sein, die von allen Beteiligten abhängt und die auch in so vielen Fällen bereits beispielhaft funktioniert, dann aber leider nicht auf den Titelblättern des FOCUS landet.
Die Geschehnisse der Silvesternacht müssen mit all ihren noch offenen Fragen aufgeklärt werden und es müssen Schlüsse gezogen werden, die uns gegebenenfalls zu neuen Handlungen führen.
Dies bedarf Zeit, in der wir uns gedulden müssen und uns nicht von lauten Rufen beirren lassen dürfen.
Keinesfalls aber dürfen unsere Reaktionen auf Kosten unserer Menschlichkeit, der Menschenrechte oder des Rechts auf Asyl gehen, denn all dies muss, wie die Würde des Menschen, unantastbar sein.

Vermeintliche Zensur

Zuletzt möchte ich mich zum Thema der vermeintlichen Zensur äußern, welches in diesen Tagen wieder heftig diskutiert wird. Es geht um die Grundsätze der Veröffentlichungen der Polizei und im Besonderen darum, ob und wann die Herkunft von Straftätern bzw. Verdächtigen genannt werden soll.
Besonders laut jammert natürlich wieder Rainer Wendt, der Chef der deutschen Polizeigewerkschaft DPOLG, der schon mit so manchen grenzwertigen Äußerungen zum Asyl-Thema die Menschen aufschreckte, welche andere Polizeibeamte aber gar nicht teilten.
Er behauptet es müssen politische Erwartungshaltungen erfüllt werden, man dürfe nicht die Wahrheit sagen, es werde systematisch verschwiegen.
An dieser Stelle sei nur rein vorsichtshalber, und um den Lesern die Einschätzung seiner Aussagen zu erleichtern, erwähnt, dass Rainer Wendt die Polizei für eine größere Menschenrechtsorganisation als Amnesty International hält und selbst Polizeigewalt für nicht existent einstuft (ich schrieb auf Rechtsstaat bewachen), obwohl er doch so ein großer Gegner des systematischen Verschweigens ist.

Meiner Meinung nach hat es gute, nicht zuletzt historische Gründe, wieso bei Sprachregelungen und Veröffentlichungen Vorsicht geboten ist. Manchmal mag es lächerlich wirken und man hat das Gefühl sich um Worte zu winden, statt das Kind beim Namen zu nennen. In die Zeit, wo man rassistische Begriffe wie Neger oder Zigeuner im Alltag nutzte, möchte ich aber erstens nicht zurück.
Zweitens hat die Polizei eine besondere Verantwortung. Gelogen werden soll auf keinen Fall, doch verschiedene Interpretationen desselben Sachverhaltes können schon verschieden heftige Reaktionen hervorrufen.

Im Grunde gibt es aber nur zwei vernünftige Optionen.

Entweder man verzichtet in bestimmten Fällen, v.a. wenn es nichts zur Sache tut, darauf die Herkunft der Täter zu nennen, weil man glaubt, Teile der Öffentlichkeit seien nicht fähig die aus dem Kontext gerissenen Informationen richtig einzuordnen und dies spiele Volksverhetzern in die Arme und begünstige Entwicklungen wie die „Kölner Bürgerwehren“.

Ich verstehe jedoch auch, wenn man Transparenz fordert und keine Details vorenthalten haben möchte, weil sie irgendwen zu Straftaten oder ähnlichem motivieren könnten. Viele waren zu recht sehr stutzig als sich Innenminister de Maiziére zwecks Terrorwarnung in Hannover ausschwieg, weil er der Ansicht war, die volle Wahrheit könnte „die Bevölkerung verunsichern“. Auch wenn es nicht immer klassische Zensur zum Machterhalt und zur Manipulation sein muss, fühlt sich das Ideal einer größtmöglichen Transparenz doch besser an.

Dies führt uns also zur zweiten Option.

Man veröffentlicht die Herkunft der Täter. Dies kann dann aber nur in ausschließlich jedem Fall geschehen, sodass man Statistiken und Analysen aufstellen kann. Ich möchte hinzufügen, dass ich dies dennoch für problematisch halte, da es äußerst fragwürdig ist, ob man ohne Erkenntnisse zum Einzelfall  überhaupt realistische Aussagen treffen kann, vor allem, wenn man darüber diskutieren möchte, ob bestimmte Kulturen bestimmte Kriminalität eher befördern, eine These, die empirisch bisher nie so einfach ausgelegt oder bestätigt werden konnte.

Ich sage bewusst ausschließlich in jedem Fall und jede Nationalität. Natürlich muss dann auch die Deutsche genannt werden. Die Situation, die wir bisher haben ist dahingehend problematisch, dass wir nicht wissen, ob bei nicht erwähnter Herkunft von einem Deutschen oder einem Ausländer  (wie auch immer man ihn definieren mag) die Rede ist.

Besser wäre es jedoch, wir überlassen jenen Personen eine Einordnung, die sich mit dem Einzelfall beschäftigen, Beamten, Richtern, Sozialarbeitern und ähnlichem.

Ein Widerspruch an der richtigen Stelle, ein Entschlossenes Eintreten in Wort und Schrift, eine Teilnahme an der richtigen Veranstaltung. Es gibt zahlreiche Wege, für den Rechtsstaat einzutreten und ein klares Zeichen für ein weltoffenes Deutschland zu setzen, welches nur, und dabei auf eine immernoch humane Weise, gegen Menschen vorgeht, die sich seiner Gesetze und Werte widersetzen.
Jeder kann und muss etwas dazu beitragen und ich rufe jeden hiermit dazu auf.
Bevor es zu spät ist. 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

30 Jahre Bosnienkrieg - Gedenktage und internationale Konferenz in Sarajevo

30 Jahre Unabhängigkeit Bosniens - Wiederholt die Welt ihre Fehler in der Ukraine?

Rassismus-Kritik gegen WDR: Über das Reden, wenn man zuhören sollte