Zur Verteidigung demokratischer Werte nach dem Mord an Samuel Paty




Ein Foto von Samuel Petty, das sich nach der Tat in den sozialen Medien verbreitete, dazu der Hashtag #jesuisprofesseur

Was sich am Freitag nahe Paris ereignete, war ein Verbrechen unvorstellbarer Grausamkeit, das zu Recht als Angriff auf demokratische Werte bezeichnet wird. Die Umstände der Tat zwingen dazu, sie politisch zu diskutieren, denn das Opfer wurde ausgewählt, weil es SchülerInnen das Recht der Meinungsfreiheit nahebringen wollte, ein Fundament der Demokratie. Eine der intensivsten öffentlichen Diskussionen der letzten Jahre zur Kunst- und Meinungsfreiheit entbrannte anhand der Mohammed-Karikaturen von Charlie Hebdo. Gerade nach dem zweiten Anschlag nahe der ehemaligen Redaktion Ende September, drängte es sich förmlich auf, diese als Aufhänger zu nehmen. Samuel Paty hat dies sogar in einer sensiblen Weise getan, indem er SchülerInnen nicht zwang, die Karikaturen anzusehen: wer verletzte religiöse Gefühle befürchtete, konnte zuvor den Raum verlassen.

Man mag die Karikaturen für geschmacklos halten, für eine Provokation, die man sich vor dem Hintergrund der Erwartbarkeit einer Empörungswelle unter Muslimen hätte sparen können. Kein überzeugter Demokrat kann jedoch staatliche Grundrechtseinschränkungen oder gar Gewalt gegen Andersdenkende als legitime Antwort auf Meinungsunterschiede oder verletzte Gefühle ansehen. Eine pluralistische, demokratische Gesellschaft ist undenkbar, wenn verschiedene Weltbilder nicht unter Gewährung allgemeiner Rechte friedlich koexistieren können und Menschen in gewissem Maße auch das ertragen, was sie selbst ablehnen. Natürlich haben Freiheiten auch gewisse Grenzen und müssen gegen andere Freiheiten und Güter abgewogen werden. Aber selbst wenn der Schutz religiöser Gefühle ein Grundrecht wäre, müsste man es gegen andere Grundrechte abwägen und zu dem Schluss kommen, dass die bloße Existenz einer Karikatur keine Nachteile oder Einschränkungen bringt, die schwerer wögen als Verbote für die Künstlerinnen.
Wenn man also nur noch den Schutz schwer zu konkretisierender religiöser Gefühle, die auch aufgrund laizistischer Traditionen keinen Grundrechtsstatus haben, gegen Kunst- und Meinungsfreiheit abzuwägen hat, die natürlich erlauben sich mit gleichen, gewaltlosen Mitteln auch scharf gegen die Karikaturen auszusprechen, dann muss sich eine demokratische Gesellschaft natürlich für die Grundrechte entscheiden, die sie erst zu dem machen, was sie ist. Man kann als Lösung also nur fordern und muss es können, die Karikaturen schlicht zu ignorieren oder sie zu kritisieren, aber nicht sie zu verbieten.
Auch nach Jahrzehnten demokratischer Tradition müssen diese Grundsätze verteidigt werden. Und das nicht nur gegen Menschen, die sie angeblich aufgrund der Zugehörigkeit zu „undemokratischen Kulturkreisen“ nicht verstünden. Sondern auch gegen die Menschen, die uns weismachen wollen, ein solcher Determinismus und ein "Kampf der Kulturen" seien die Hauptbedrohung für die Demokratie und Menschen seien nicht fähig, Ideen unabhängig von Ethnie, Kultur oder Religion zu reflektieren, weshalb man ganze Kollektive in Sippenhaft nehmen könne, weil sie etwa dieselbe Religionszugehörigkeit angeben wie ein Täter. Hier wird lediglich das alte Konzept der Rasse, schlecht getarnt, durch jenes der Kultur ersetzt, die Verallgemeinerung und Abwertung bleibt dieselbe. Alice Weidel etwa wartete nicht lange, um die Tat zu instrumentalisieren und vom Scheitern multikultureller Gesellschaften zu sprechen, in der Hoffnung, das Umfragetief der AfD einmal wieder durch Hetze und das Schüren von Angst zu überwinden.
Es ist jedoch kein Kampf gegen Multikulturalismus oder den Islam, zu dem diese Tat aufruft. Sie ruft auf zum Kampf gegen die Feinde einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft. Und die finden sich unter Menschen, die diese Tat befürworten, ebenso wie unter jenen, die sie instrumentalisieren, unter Ethnien, Kulturen und Religionen aller Art.
In Deutschland ist der rechte Terror nach wie vor die größte Gefahr und für die mit Abstand größte Zahl der Opfer verantwortlich, erst am Samstag fuhr am Rande einer AfD-Veranstaltung nahe Hamburg ein Wagen in eine Gruppe AntifaschistInnen. Kaum jemand im Westen käme allerdings auf die Idee, aufgrund rechtsextremer Taten pauschal Deutsche oder aufgrund der Taten von „Christenverteidigern“ wie Breivik pauschal Christen als Gefahr für die Demokratie zu sehen. Es ist für uns selbstverständlich, dass dieses Identitätsmerkmal zwar in einer extremistischen Ideologie hochgesteigert wurde und diese die Tat antrieb, dass aber die Menschen, die dieses Identitätsmerkmal zufällig teilen eine höchst heterogene Gruppe sind, die differenziert betrachtet werden muss. Wir müssen aufpassen, jetzt nicht auf die Instrumentalisierungen jener hereinzufallen, die schon seit Jahren pauschal gegen Muslime hetzen und dadurch ebenso grausamen Terror gegen ebenso Unschuldige wie etwa in Hanau inspiriert haben. Die Differenzierung, die wir selbstverständlich aufbringen, wenn ein Täter aus einer Ethnie oder einem Kulturkreis stammt, dem wir uns selbst zuordnen, müssen wir auch bei jenen aufbringen, die wir als fremd empfinden und die in der Minderheit sind.
Natürlich muss aber auch darüber gesprochen werden dürfen, welche religiös-kulturellen Überzeugungen, Motive und Strömungen in spezifischen muslimischen Milieus antidemokratisches Denken und entsprechendes Handeln begünstigen könnten. An Strömungen, die demokratische Grundwerte nicht akzeptieren, indem sie etwa ein Verbot von Karikaturen fordern, muss man sich, wie ich argumentiert habe, auch nicht anpassen. Aber viel zu häufig geschieht eine solche Diskussion nicht mit der nötigen Differenziertheit, beginnend damit, dass man über „den Islam“ sprechen will. Viel zu oft schwingen von Beginn an Vorurteile, pauschalisierende Unterstellungen, Missverständnisse und subjektive Verzerrungen auf allen Seiten mit. Meistens erschöpft sich eine Analyse, die die kulturelle Inkompatibilität "des Islam" mit "der deutschen bzw. christlich-abendländischen" und den kulturellen Determinismus, dem Muslime ausgesetzt seien, beweisen soll, im googlen einiger Koranzitate, deren Bekanntheit oder wörtliche Umsetzung unterstellt wird. Solche Ansätze werden nicht annähernd der Komplexität der sozialen Wirklichkeit gerecht und der zahlreichen Einflüsse, die soziales Handeln beeinflussen.
Wir müssen stattdessen deutlich vielschichtigere Zusammenhänge annehmen. Wir müssen aus der Lebenswelt von Menschen denken, die für Radikalisierungsprozesse affin sind. Wir müssen über sozioökonomische Integration sprechen, gerade Frankreich kann mit seinem extrem geschlossenen sozialen System, das auf der einen Seite Eliten, auf der anderen Außenseiter und Parallelgesellschaften produziert, als Negativbeispiel dienen. Hinzu kommt die nicht nur im Falle Frankreichs nie aufgearbeitete koloniale Vergangenheit, die etwa Islamisten immer wieder zur Mobilisierung und Feindbildkonstruktion dient, dem muss ein demokratischer, inklusiver und historisch sensibler Diskurs zuvorkommen.
Immer wieder hört man nach solchen Anschlägen die beunruhigende Wahrheit, dass es absolute Sicherheit nicht geben kann. Weder absolute Kontrolle, noch Sippenhaft können eine demokratische Antwort sein. Generell haben wir also, insbesondere beim Tätertyp „einsamer Wolf“ keine andere Einflussmöglichkeit, als Risikofaktoren zu identifizieren und gegen sie zu arbeiten, um Prävention gegen Hassverbrechen jeglicher Motivation zu erreichen. Das klingt zunächst nach wenig, konkret bieten sich aber diverse Möglichkeiten: Von Sozial- und Integrationspolitik, über Aussteigerprogramme, die Kontrolle abgeschotteter Diskursräume und radikalisierender Organisationen, bis zur Revision, wie und mit wem Diskurs stattfindet. Für möglicherweise notwendige Reformen im Islam und die Herausbildung eines „europäischen Islam“ etwa braucht es die Muslime und ihre Repräsentanten, nicht Wolfgang Bosbach.
Nicht zuletzt müssen Sicherheitsbehörden ihre Arbeit machen, die jedoch immer gegen den Schutz von Bürger- und Menschenrechten abgewogen werden muss, der CIA-Folterbericht etwa zeigt, was ein einseitiger und emotionalisierter Sicherheitsdiskurs sonst auslösen kann.
Niemand hat behauptet, dass eine pluralistische und multikulturelle Gesellschaft einfach zu organisieren ist, oder dass sie stets harmonisch funktioniert. Einige unter uns haben sich jedoch im Gewitter der Schlagzeilen und populistischen Hysterisierung längst entschieden, dass meine Vorschläge naiv sind und die Lösung für diese Probleme nur in dem liegen kann, was euphemistisch als Ethnopluralismus bezeichnet wird (man könnte es auch Blut und Boden Ideologie nennen), während die Wortführer der neuen Rechten stets die Erklärung schuldig bleiben, wie eine absolute, kulturell-territoriale Homogenität aus dem Status Quo erreicht werden soll. Noch sehen sie sich wohl nicht mächtig genug es laut zu Ende zu denken, man kann es jedoch schon in diversen Kommentarspalten erahnen, wo unverblümt Vertreibungs- und Vernichtungsphantasien geäußert werden.
Die Gewalt einer extremen Minderheit kann aber nicht dafür verantwortlich sein, dass wir selbst unsere demokratischen Werte zerstören, zu denen das Ideal des Pluralismus, auch ethnisch-kultureller Art, gehören muss. Ihren Feinden das Feld zu überlassen würde bedeuten die Lebensrealität unzähliger Menschen, die auf diesem Ideal aufbaut, in Gefahr zu bringen. Ich schrieb Pluralismus bedeutet auch, zu ertragen, was man ablehnt. Wir müssen nicht alle die exakt gleichen Überzeugungen, Werte, Prioritäten und Gewohnheiten haben, damit wir koexistieren können, moderne Gesellschaften sind divers, dennoch funktionieren sie grundsätzlich. Wir müssen nur in Grundfragen der Toleranz und der gegenseitigen Gewährung von Grundrechten und -freiheiten einen gewissen Konsens haben und gemeinsam verhindern, dass zu viele an diesem Konsens rütteln. Wer dabei Verbündeter und wer Gegner ist, entscheidet sich nicht entlang der Linien von Ethnie, Kultur oder Religion.

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