Gedenken an Hanau: Wendepunkt oder alte Fehler?


Die Angehörigen der Ermordeten rufen unter dem Hashtag #saytheirnames dazu auf, den Fokus auf die Opfer, statt auf den Täter zu lenken. Sie gründeten Außerdem eine Initiative.

Heute jährt sich der rechte Terroranschlag von Hanau zum ersten Mal. Ermordet wurden Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kenan Kurtović, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.

Dass die Tat in einer breiteren Öffentlichkeit als Rechtsterrorismus benannt und als Teil eines größeren Problems aufgefasst wurde, ist neu. Tausende rassistische Übergriffe auf Geflüchtete und deren Unterkünfte in den Jahren zuvor (etwa mit einer scharfen, zufällig nicht explodierten Handgranate 2016) haben nicht gereicht, um diesen Begriff zu etablieren und diesem Diskurs die nötige Priorisierung zu verleihen. Der Anschlag in München 2016, der starke Parallelen zu Hanau aufweist, wurde meist noch als Amoklauf bezeichnet.
Auch wenn es keine geschredderten Akten, mysteriös verstorbene Zeugen und staatliche Täterfinanzierung gibt, so drängen sich doch ernüchternde Parallelen zum NSU-Komplex auf: Der erste Verdacht am Tatort war eine Auseinandersetzung im „kriminellen Ausländermilieu“, Angehörige haben unbeantwortete Fragen, werfen den Behörden Untätigkeit vor (z.B. bei Ermittlungen gegen den Vater des Täters) und wurden zeitweise selbst in die Täterrolle gedrängt , etwa von SEK-Beamten mit Waffen bedroht und gewarnt den Vater des Täters nicht zu bedrohen und keine „Blutrache“ zu üben.
Viele haben den Eindruck, nicht ausreichend ernstgenommen und geschützt zu werden, was besonders vor dem Hintergrund einer verheerenden Bilanz rechter Umtriebe und einer vergessenen Geschichte und Kontinuität rechten Terrors empört. Die Opferzahl dieser Verbrechen in Deutschland ist höher als bei jeder anderen Art von Extremismus – alleine seit der Wiedervereinigung bezahlten über 200 Menschen mit ihrem Leben. Rechte Radikalisierung geschieht oft aus der Mitte der Gesellschaft, Rechte zwingen Politiker*innen ihre Ämter aufzugeben oder ermorden sie, sie unterwandern Behörden, horten von dort geklaute Waffen, bedrängen Politiker*innen im Bundestag und versuchen ihn zu stürmen, veranstalten Hetzjagden, veröffentlichen Feindeslisten, bestellen Leichensäcke und Ätzkalk, haben eigene Dörfer, Institute, Festivals, Onlineshops, Politiker*innen in den Parlamenten.
Auf der anderen Seite darf man bemerken, dass nach Hanau, Halle, Lübcke endlich Bewegung in den Diskurs zu kommen schien. Ein Innenminister, der zuvor von der Migration als „Mutter aller Probleme“ sprach und sich über 69 Abgeschobene an seinem 69. Geburtstag freute (von denen sich einer in Afghanistan das Leben nahm) wollte Moscheen schützen lassen. Spitzenpolitiker*innen und Medien sprachen nun von rechtem Terror, ein neuer Verfassungsschutzpräsident - der nicht verharmlost, sondern Rechtsextremismus als die größte Gefahr benennt - beerbte einen selbst weit rechtsstehenden, es wurde ein neuer Kabinettsauschuss eingesetzt, der 89 Maßnahmen vorlegte. Diese werden jedoch unterschiedlich bewertet, einige sehen darin oberflächliche, zu wenig koordinierte Symptombehandlungen. War es am Ende doch wieder nur wenig nachhaltiger Aktionismus, weil man irgendwie reagieren musste? Der Selbe Innenminister fällt später jedenfalls wieder in die alte Rolle zurück und stellt sich massiv gegen eine wissenschaftliche Studie, die Rassismus bei der Polizei untersuchen soll und endlich klären, ob es sich um Einzelfälle oder Strukturen handelt und das obwohl racial profiling von der EU gerügt wurde, Drohbriefe aus Polizeipräsidien verschickt wurden, ein Polizeigewerkschaftsvorsitzender immer wieder mit nahezu rechtsextremen Positionen auffällt.
Interessanter und vielleicht wichtiger als die politische und behördliche Ebene ist jedoch die gesellschaftliche. Auch Andreas Zick bemerkt, dass der Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus in erster Linie ein gesamtgesellschaftlicher ist, der noch nicht effektiv genug geführt wird. Durch Verschwörungstheorien zur Pandemie konnten Rechte massiv mobilisieren, die Berichterstattung zu Corona verdrängte andere Themen, darunter auch Rassismus, aus der Öffentlichkeit. Man muss aber nicht erst in rechtsextreme Milieus blicken, um Ursachen für rassistische Kontinuitäten zu entdecken, das ist zentral und zu wenig verstanden. Es existieren neben Politiker*innen und Beamt*innen zahlreiche Medien, Meinungsmacher*innen, soziale Blasen und „ganz normale“ Mitbürger*innen, die sich manchmal auch energisch vom Rechtsextremismus abgrenzen, aber das Problem des Rassismus konsequent herunterspielen oder ignorieren, den Diskurs bereits für allgegenwärtig halten und gar genervt sind. Die WDR-Talkrunde vom 29.01. hat dies eindrücklich vorgeführt. Stattdessen lesen, schreiben und sprechen viele ununterbrochen über Ausländerkriminalität, Islam, arabische Clans und angeblichen No-Go-Areas für die Polizei, während sie über No-Go-Areas für Migrant*innen noch nie nachgedacht haben. In jeder Kommentarspalte mit einem Thema das entfernt etwas mit Migration, Gleichberechtigung, Rassismuserfahrungen zu tun hat, springt einem die Hetze entgegen.

Nach dem islamistischen Terror gegen Ende des Jahres wurde wieder gefordert, dass muslimische Communities Selbstreflexion üben, ein Auge auf extremistische Umtriebe haben und sich abgrenzen sollen, mal vorbildlich differenziert und nachvollziehbar, mal mit pauschalisierend-unterstellendem Unterton und natürlich ganz oft auch offen rassistisch. Der Täter von Hanau hingegen ist meist ganz selbstverständlich ein verrückter Einzeltäter, mit dem man nichts zu tun hat, kein Symptom einer gesellschaftlichen Entwicklung, die man beeinflussen kann und sollte. Viele Migrant*innen fühlen sich nicht zuletzt durch dieses Messen mit zweierlei Maß zu Bürger*innen zweiter Klasse degradiert und scheinen das Gefühl zu haben, dass zwar viel über Rassismus geredet wird, seine Existenz im Alltag aber eine Tatsache bleibt, die viele nicht interessiert. Ihre Erfahrungen und Sorgen seien im Zweifel zweitrangig.

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