Hinter der Polizei stehen - zu welchem Preis?

Seit der Ermordung von George Floyd in Minneapolis und der Krawallnacht von Stuttgart am 20.06. wird auch in Deutschland wieder intensiv über die Polizei diskutiert. Wie im Zeitalter der sozialen Medien bereits gewöhnlich, verläuft der Diskurs mitunter stark schablonenhaft, emotionalisiert und polarisiert. Auf der einen Seite vernimmt man entmenschlichende Beiträge, die BeamtInnen als Schweine, Bastarde oder Müll verschreien, auf der anderen Seite wird Rassismus und rechtswidrige Gewalt bei der Polizei ignoriert und eine Cop Culture à la Dirty Harry herbeigesehnt. Wie in anderen Diskursen lässt sich gut beobachten, wie Ideologie jenen Teil der Realität bestimmt, der zuvorderst und mitunter ausschließlich wahrgenommen wird und wie sich bestimmt, welche Gruppe pauschal das Label Opfer bzw. Täter erhält, sowie wem die Solidarität gilt.

An dieser Stelle kann ich nicht final ausdiskutieren, wie ich welches „Lager“ bewerte und welchen Argumenten ich schlussendlich die größere Legitimität zuschreibe (für viele Fragen wären wissenschaftliche Erhebungen notwendig), sondern einen differenzierten Diskussions- und Meinungsbeitrag beisteuern, in dem ich ausführe, wie ich auf dieses Thema blicke.


„Hinter den Beamten stehen“ – was heißt das?


Eine alte Forderung, die wir in diesen Tagen wieder häufiger wahrnehmen ist der Ruf nach, teils bedingungsloser, Solidarität mit PolizeibeamtInnen. Eine tatsächliche Bedingungslosigkeit in dieser Frage hielte ich jedoch für fatal. Es ist sozialpsychologisch absolut nachvollziehbar, dass sich BeamtInnen für den harten und teilweise undankbaren Job, den sie ausführen, Anerkennung wünschen. Wenn sie ihre Arbeit sozial sensibel und gesetzeskonform ausführen, oder sogar aus menschlichen Motiven darüber hinausgehen, ist eine solche auch angebracht. 

Für ein funktionierendes demokratisches Miteinander ist es jedoch absolut essentiell, dass daraus keine falsche Solidarität erwächst, die dazu führt, dass über Fehlverhalten hinweggesehen wird. Auch PolizeibeamtInnen müssen verstehen und dafür sensibilisiert werden, dass ihr Job keiner wie jeder andere ist und sie eine einzigartige gesellschaftliche Stellung einnehmen, weil sie das Gewaltmonopol tragen. Es muss völlig selbstverständlich sein, dass diese Macht mit gesellschaftlicher und staatlicher Kontrolle einhergeht, die nicht als persönlicher Angriff oder unangemessenes Misstrauen verstanden werden darf – das ist die Kernidee der demokratischen Gewaltenteilung. Die Polizei muss ein Eigeninteresse daran entwickeln, dass Überschreitungen der Dienstvorschriften konsequent verfolgt und diesen strukturell vorgebeugt wird, so wie es Sebastian Fiedler, Vorsitzender vom Bund Deutscher Kriminalbeamter, bei Maybritt Illner bereits als Tatsache darstellt – nicht ganz realitätsgetreu, wie sich zeigen wird.

Selbstverständlich sind PolizistInnen Menschen, die Familien haben, die einen wichtigen Dienst für die Gesellschaft leisten und die häufig in Überstunden gesellschaftliche Probleme ausbaden, für die andere zuständig sein sollten. Aber all dies kann nicht von der Notwendigkeit entbinden, dass ihre Arbeit kritisch beobachtet wird, denn ihre Machtposition lädt zu Missbrauch mitunter förmlich ein.

Nach jedem Tatort könnte man eigentlich über Rationalitätenfallen diskutieren und warum ein die Dienstvorschriften überschreitendes Verhalten im Einzelfall naheliegend erscheinen mag, um TäterInnen dingfest zu machen, aber gegen die Menschenrechte verstößt und sozial enorme Sprengkraft entwickeln kann, wie man beispielsweise am Fall George Floyd sieht, in dessen Folge der gesamte Gesellschaftsvertrag angezweifelt wird.

Die Fernsehermittler stellen zum Beispiel, ohne Rücksicht auf Bürgerrechte, Tatverdächtigen privat nach, es wird ohne Beschluss in Wohnungen eingebrochen oder Verhöre finden unter Gewalteinwirkung statt. Dass das für den Kleinbürger mit autoritärer Pesönlichkeit oder den Gummigeschoss-fordernden Law&Order-Polizeigewerkschafter Rainer Wendt in die richtige Richtung geht, ist klar. Der aufgeklärten DemokratIn muss man allerdings nicht erklären, welche Gefahren dies birgt und warum bewusst die ersten zwanzig Artikel des Grundgesetzes die Abwehrrechte gegen den Staat beinhalten.

Dass nach Ausschreitungen, bei denen Polizeibeamte verletzt werden, wie zuletzt in Stuttgart, Polizeigewalt als eine Art gerechte Reaktion geframet wird, ist ebenso alarmierend. PolizistInnen sind bewaffnete RepräsentantInnen der Staatsmacht und haben einen Eid auf die Verfassung abgelegt, sie dürfen keine „Auge um Auge“-Rachelogik geltend machen, sie müssen nach anderen Gesichtspunkten bewertet werden und andere Standards erfüllen, als beliebige Bürger oder Straftäter. 

Auch ist der Verweis absurd, man dürfe die Polizei nicht kritisieren, wenn man ihre Hilfe in Anspruch nehmen würde. Die taz-Redaktion, die einen geschmacklosen Satire-Artikel über PolizeibeamtInnen veröffentliche und sich später dafür entschuldigte, handle zum Beispiel heuchlerisch, weil sie einmal wegen linksautonomer Angreifer die Polizei rief. Welches Polizeiverständis scheint hier durch? Ist die Polizei ein Dienst für die Sicherheit der Bürger, des Souveräns im Staat, oder steht man mit ihr in einer Beziehung wie zu einer Mafiaorganisation, die einen beschützt, der man dafür aber ewige Treue, Loyalität und Zustimmung schuldig ist und der man keinesfalls, wie Wolfgang Bosbach es ausdrückt, „in den Rücken fallen“ sollte?



Stetig steigende Gewalt gegen PolizeibeamtInnen als Rechtfertigung - Stimmt das?


Dabei ist das wieder häufiger und zunehmend als Rechtfertigung zu vernehmende Narrativ der immer weiter steigenden Gewalt gegen PolizeibeamtInnen mit guten Gründen zu hinterfragen. Vielleicht stieg die Gewalt ja tatsächlich im Vergleich zu einem bestimmten Zeitraum, vll. ist sie absolut hoch und natürlich war der Polizeiberuf immer ein gefährlicher. Aber eine solide wissenschaftliche Grundlage für den immer wieder postulierten, linearen oder gar exponentiellen Eskalationstrend gibt es derzeit nicht. Die systematische Erfassung unter neuen Straftatbeständen und Polizeigesetzen existiert erst seit wenigen Jahren, weniger gravierende Zwischenfälle werden nun in einem gesamten Gewaltbegriff zusammengefasst und Anzeigen gezählt, sodass keine eindeutige Vergleichbarkeit oder Rückschlüsse auf tatsächliche Situationen möglich sind. Da verwundert es nicht, dass in Talkshows und Interviews meist auf anekdotische Evidenz, also eine gefühlte Verschlimmerung, die bekanntermaßen leicht täuschen kann, zurückgegriffen wird. Sebastian Fiedler (der sich häufig übrigens viel progressiver als z.B. Wendt äußert) fasste es in eigenen Worten gut zusammen, indem er sagte, ihn interessierten keine Statistiken, sondern „handfeste Situationen“ - eine objektive Wahrheitssuche funktioniert so natürlich nicht.  
Der renommierte Polizeiwissenschaftler und ehemalige Polizist Rafael Behr geht sogar von einer Strategie basierend auf politischen und beruflichen Interessen nach mehr Ausrüstung, mehr Gefahrenzulagen und mehr Befugnissen aus, die diesen Narrativen zu Grunde lägen. 



Wo liegt das Problem?


Dass wir überhaupt noch darüber diskutieren, ob bei den deutschen Polizeien Probleme existieren, die über zufällige Einzelfälle hinausgehen, ist angesichts der Datenlage eigentlich nicht nachvollziehbar, auch wenn sich einige gegen die Begriffe „strukturell“ oder „systematisch“ nochmals besonders wehren. Der Korpsgeist ist von den Polizeiwissenschaften längst als Fakt und Problem nachgewiesen, die Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polizisten macht seit Jahren auf diesen und andere Missstände aufmerksam (Mitglieder wurden dafür immer wieder von Kollegen gemobbt und mit Klagen überzogen), Amnesty International und andere NGOS haben in jahrelangen Kampagnen zahlreiche Informationen zu dem Thema zusammengetragen, der Europarat hat Deutschland wegen Racial Profiling durch seine PolizeibeamtInnen gerügt, aktuell werden immer schockierendere Verstrickungen von Sicherheitsleuten in rechtsextreme Netzwerke bekannt und die vorläufigen Ergebnisse der größten Erhebung zum Thema Polizeigewalt der Uni Bochum sprechen auch eine eindeutige Sprache. Um vom NSU-Komplex oder Einzelfällen wie Oury Jalloh gar nicht erst anzufangen.


Eine Frage der Macht


Warum hinsichtlich dieser Situation so wenig getan wird und Horst Seehofer damit beschäftigt ist der erwähnten Satire-Autorin mit Klage zu drohen (obwohl er davon beispielsweise absah, als seine ehemalige Parteikollegin Steinbach das ganze Internet gegen seinen wenig später ermordeten Parteikollegen Lübcke aufhetzte) kann man nur mit Machtdynamiken erklären. 

Rainer Wendt habe ich einmal live in Hamburg erlebt. Als wahrhaftigen Scharfmacher, der das Publikum aufwiegelte, indem er flotte und vermeintlich witzige Sprüche riss, um dann mit einem Mal umzuschlagen auf nationalistische Hetze gegen Merkel und ihr „Weltrettertum“, grüne und linke, Verharmlosung von Rassismus und Polizeigewalt, Forderungen nach Gummigeschossen und Tasern, Inschutznehmen des zunehmend sich rechtsextrem artikulierenden Hans Georg Maaßen usw. Im Publikum saßen Menschen, die vom "patriotischen Lager" sprachen und Wähler von Union und AfD meinten. Rainer Wendts Gewerkschaft (eigentlich Lobby, denn PolizistInnen sind unkündbare Beamte mit festem Lohn, die nicht streiken dürfen) zählt nahezu 200.000 Mitglieder. Die neueste Ausgabe ihres Mitglieder-Magazins, die erste seit George Floyd, sieht in Zeiten von Halle, Hanau, Lübcke, Nordkreuz, Reichsbürgern, Revolution Chemnitz, Combat 18, Todeslisten, Hetzjagden, verschwundenen Kriegswaffen und vielem mehr, die größte Gefahr im Wiederaufleben der RAF und titelt: „Linkextremismus – Brutal. Zynisch. Arrogant“. Stephan Anpalagan hat auf facebook einen eindringlichen Post zum Thema veröffentlicht.  

Viele Politiker dürften Respekt vor der Macht von 200.000 StaatsdienerInnen haben, die sie im Zweifel beschützen sollen, Konservative und deren WählerInnen skizzierte Weltbilder insgeheim oder offen sogar unterstützen. Der bereits erwähnte Wolfgang Bosbach etwa, Dauergast in Talkshows, glaubt als alter weißer Mann die Nichtexistenz von Racial Profiling beweisen zu können und spricht am liebsten von Islamisten und arabischen Clans. Er ist offenbar einer jener Unions-Politiker, die glauben, mit mehr Rechtspopulismus die Wähler der AfD zurückholen zu können. Über Polizeigewalt in Deutschland, Neonazis, enthemmte Nachbarschaftswachen, Motorradclubs, Wirtschaftskriminalität, korrupte Parteikollegen etc. spricht er konsequenterweise meist nicht von sich aus.



Quo vadis?

  

Konzepte um diese Probleme anzugehen liegen längst auf dem Tisch, der politische Wille sie umzusetzen fehlt bislang. Etwa unabhängige Beschwerdestellen, die das problematische, tendenzielle Kumpanei-Verhältnis zwischen Polizei und Staatsanwaltschaften aushebeln, Polizeibeauftragte nach dem Vorbild des Wehrbeauftragten, bessere Ausbildung und Gesinnungsprüfungen (damit sich Fälle wie die des SS-Bücher und Nazi-Shirts auf die Dienststelle mitbringenden und später trotz Kollegen-Beschwerden beförderten Polizeibeamten Marko G. nicht wiederholen), Konzepte der kritischen Kriminologie, die auf soziale Prävention von Kriminalität, statt auf Repression setzen oder Restorative Justice Konzepte, bis hin zur Auflösung problematischer Einheiten, wie in Minneapolis oder aktuell im KSK der Bundeswehr – um nur einige zu nennen.  Auch gäbe es viel sinnvollere Konzepte, Polizisten resilienter für die Härten ihres Jobs zu machen, als sie mit Tasern und Gummigeschossen auszurüsten – gerade die häufig genannten psychischen Erniedrigungen. Beamte aller Art müssen aber immer noch um ihren Job fürchten, wenn sie sich in professionelle Behandlung begeben, obwohl der Polizeiberuf einer der riskoreichsten etwa für Traumafolgestörungen ist.

Man muss nicht das befürworten, was im Volksmund fälschlicherweise als Anarchie verstanden wird (eigentlich die Abwesenheit von Herrschaft) - wobei eher Anomie nach Durkheim gemeint sein dürfte (die Abwesenheit von Normen, Regeln und Ordnung) - man muss noch nicht einmal das staatliche Gewaltmonopol im Gegensatz zur Selbstjustiz ablehnen, um es angesichts der geschilderten Situation für dringend geboten zu halten, politisch für solche Reformen einzustehen.

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