30 Jahre Bosnienkrieg - Gedenktage und internationale Konferenz in Sarajevo
30 Jahre bosnische Unabhängigkeit bedeuten 30 Jahre seit
Kriegsbeginn. In ganz Bosnien wird -während gleichzeitig die schwerste
Staatskrise seit Kriegsende herrscht – an das unvorstellbare Grauen und Leid,
aber auch an die unglaublichen Geschichten von Mut, Menschlichkeit und
Widerständigkeit erinnert. Ich habe die Ehre in diesen Tagen an zahlreichen
Veranstaltungen in Sarajevo teilzunehmen, deren Belagerung die längste in der
modernen Geschichte war. Der 6. April ist ein Schicksalsdatum für Sarajevo. Am
06.04.1941 griffen die Nazis an, am 06.04.1945 wurde die Stadt vom Faschismus
befreit, am 05./ 06.04.1992 begann die Belagerung der Stadt im Bosnienkrieg.
Bewusst an diesen Tagen, an denen gleichzeitig auch noch das muslimisch Opferfest
begangen wurde. Über 11.500 Menschen wurden alleine in Sarajevo ermordet,
darunter 1601 Kinder. Die Stadt litt unter einer permanenten Terrorkampagne von
Scharfschützen- und Granatenbeschuss, der bewusst auf Zivilist:innen abzielte,
dies stellte der ICTY zweifelsfrei fest. Es gab in dieser Stadt, in der im Jahr
vor Kriegsbeginn knapp 527.000 Einwohner gezählt wurden, zwischen 1992-1995
schätzungswiese bis zu 500.000 Einschläge von Granaten und Projektilen, 329
Granaten im täglichen Durchschnitt, 3777 Granaten am 22.7.1993, dem Tag mit dem
höchsten Beschuss.
International Conference: 30 Years Later - Sarajevo
In der Vijećnica, Nationalbibliothek und Rathaus von Sarajevo, fand zu dem historischen Anlass am 05.04.2022 eine internationale Konferenz statt. Ausgestellt waren Bilder der Belagerung, sowie des im Krieg zerstörten Gebäudes (welches 2014 offiziell wiedereröffnet wurde). Anwesende waren u.a. Munira Subašić, Vorsitzende der Mütter von Srebrenica, die Bürgermeisterin Sarajevos Benjamina Karić, ihr Amtsvorgänger Dr. Ivo Komšić, der hohe Repräsentant Christian Schmidt, Serge Brammertz und Carmel Agius vom ICTY bzw. IRMCT, der ehemalige UNPROFOR-Kommandant Gen. Rupert Smith, der Botschafter der EU Johann Sattler, sowie der britische Botschafter Matthew Field.
Das Podium der Konferenz. Davor der hohe Repräsentant Christian Schmidt im Gespräch mit dem britischen Botschafter Matthew Field. Beide verließen die Veranstaltung jedoch früh. |
Die Veranstaltung begann mit einer Schweigeminute für die
Opfer der Aggression auf die Ukraine, zu der immer wieder Parallelen gezogen
wurden. In Ihrer Eröffnungsrede sprach Bürgermeisterin Karić von Sarajevo als
einer antifaschistischen Stadt, die Diversität als Qualität versteht und in der
die Aggressoren mit ihrer Absicht, die Ethnien in Hass zu spalten, gescheitert
seien.
Mit zwei Filmemachern hatte ich nach der Konferenz die Ehre einer Audienz im Büro der Bürgermeisterin |
Besonders eindrücklich war daraufhin der Auftritt von Emir Suljagić, Völkermordüberlebender und Direktor der Gedenkstätte in Srebrenica. Er hielt eine emotionale Rede, in der er die Belagerung von Sarajevo als Schlüsselereignis und Schlüsselprozess im Bosnienkrieg bezeichnete, ohne die es keinen Völkermord in Srebrenica, keine Konzentrationslager in der bosnischen Krajina und keine Massaker durch die HVO in Zentralbosnien hätte geben können. Ohne die viele Menschen, auch außerhalb Sarajevos, heute am Leben wären. Er dankte Brammertz und Agius, aber erinnerte auch an die passive Rolle der europäischen Union und wie der damalige französische Präsidenten Mitterand effektive Hilfe für Bosnien verhinderte. Hätten die Aggressoren gesiegt, wären die Vernichteten laut Suljagić nur eine Fußnote in der Geschichte. Deshalb werde ein Tag des Triumphes gefeiert, denn die Niederlage hätte die Vernichtung bedeutet. Nach seiner Rede verließ er die Veranstaltung.
Emir
Suljagić während seiner Rede |
Suljagić ahnte offenbar aufgrund vorheriger Erfahrungen,
dass die Perspektiven, die von einigen der internationalen Gäste geäußert
wurden, mit seinen eigenen nicht übereinstimmen würden. Emir Suljagić kommt
schließlich aus Srebrenica, wo Vertreter der Vereinten Nationen sich am
Völkermord in der angeblichen UN-Schutzzone mitschuldig machten. Dies ist
mittlerweile, dank der unermüdlichen Arbeit der Mütter von Srebrenica und
anderer Aktivist:innen, gerichtlich nachgewiesen. Ich empfand die Veranstaltung
insgesamt als würdevoll und durch viele interessante Perspektiven sehr
bereichernd. Doch auch ich kann die offenbar kritische Haltung Suljagić‘s
nachvollziehen und möchte mich ihr in Bezug auf einige Aussagen der
internationalen Gäste anschließen.
Dr. Ilana Bet-El, damals UN-Beraterin zeichnete das Bild einer UNO, die mit
großen Ambitionen gegründet, in Bosnien nach dem kalten Krieg wiedergeboren
wurde und mit all jenem konfrontiert war, was sie zu verhindern schwor. Den
Verantwortlichen seien ambitionierte Resolutionen des Sicherheitsrats vorgelegt
worden, an deren Ausgestaltung sie nicht beteiligt waren und die sie umzusetzen
logistisch, militärisch und rechtlich nicht im Stande waren. Es habe große
Unterschiede zwischen den Wahrnehmungen vor Ort und in weit entfernten
Zentralen gegeben. Schließlich habe sich gezeigt, dass Partikularinteressen der
Mitgliedsstaaten, die keine Souveränität abgeben wollten, den großen Idealen im
Weg standen. Bosnien sei sowohl Wiedergeburt, als auch Niedergang der UNO
gewesen. Sie habe danach an Bedeutung verloren und in keinem Konflikt wollten
ihr die Mitgliedsstaaten mehr eine exekutive Rolle zutrauen. Sie resümierte,
dass die Verantwortlichen das Beste aus der Situation gemacht hätten. Bet-Els
Mann General Rupert Smith teilte seinem ersten, kurzen Redebeitrag mit, dass er
gemessen an der Wichtigkeit seiner Rolle, damals beängstigend wenig wusste und falsche
Bilder im Kopf hatte. Heute wisse er deutlich mehr als damals, auch durch die
Dokumentation des ICTY. Der britische Professor James Gow lobte seinen
Landsmann als denjenigen, der am meisten von allen getan habe, um Sarajevo zu
befreien. Den Beitrag der Armija BiH oder irgendeines anderen bosnischen
Akteurs erwähnte er dabei nicht. Kritische Worte fand er lediglich zur der
Arbeit der internationalen Gerichte, insb. warum niemand für Völkermord
außerhalb Srebrenicas verurteilt wurde. Fehler der UN-Truppen in Sarajevo, die
es ebenso wie in Srebrenica gab, blieben hingegen unerwähnt. Etwa die Rolle des
Gründers der UN-Friedenstruppe in Sarajevo, General Mckenzie, der in seinem
ignoranten bothsideism ein Vehikel für pro-serbische Propaganda wurde und der
möglicherweise ein Grund für jene falschen Bilder in seinem Kopf sein könnte,
die Smith kurz andeutete. Viel Raum für Fragen aus dem Publikum blieb zudem
nicht. Eine kritische Frage, die ich zu diesem Thema stellen wollte, blieb durch
den britischen Moderator unaufgerufen.
Trotzdem schafften es Völkermordüberlebende aus Srebrenica und Emir Softić von der nationalen Kommission für Denkmalschutz zu Wort zu kommen. Softić erzählte, die Bewohner von Sarajevo hätten während der Belagerung das Gefühl gehabt, in einem riesigen Konzentrationslager zu leben, während sie vergeblich auf Hoffnung warteten. Er warf auch die Frage auf, warum Hilfe nicht früher kam und die Befreiungen besetzter Städte durch die bosnische Armee nach der NATO-Intervention Deliberate Force 1995 durch die internationale Gemeinschaft (unter Drohungen gegen die bosnische Seite) verhindert wurden. Er wohne direkt neben der Vijećnica, wo er als Architekturstudent gelernt habe. Als sie 1992 von den serbischen Stellungen aus gezielt in Brand gesteckt wurde, habe er in seinem Haus nachts lesen können, so hell waren die Flammen. Seine Fragen wurden leider durch die Zusammenfassungen des Moderators nur auf den Teil reduziert, der thematisierte, warum die Massaker in Bijeljina und Ostbosnien 1992 nicht bereits eine Intervention herbeigeführt hätten. Smiths Antwort: „one or two don’t make the same impact as hundrets”. Selbst wenn er mit “one or two” Massaker mit jeweils hunderten Toten meint, ist das eine starke Untertreibung der unzähligen Gräuel, die sich schon ab 1992 in Ostbosnien abspielten und in Srebrenica schließlich kulminierten. Danach machte Smith noch einen sehr merkwürdigen Vergleich mit der medialen Berichterstattung über britische Verkehrstote.
Murat Tahirović, Vorsitzender der Vereinigung der Opfer und Zeugen des Genozids warf die Frage auf, warum es nur vier Verurteilungen für die Belagerung von Sarajevo gab (Radovan Karadžić, Ratko Mladić, Stanislav Galić und Dragomir Milošević). Er machte vor allem die bosnischen Gerichte für Verfehlungen verantwortlich. Die Antwort Rada Pejić-Sremacs vom IRMCT (Nachfolgetribunal des ICTY) dürfte auch hier enttäuschend gewesen sein: Sie wolle die Arbeit der nationalen Gerichte nicht kommentieren, aber die internationalen Institutionen würden den nationalen ihre Hilfe anbieten und die Urteile Ersterer sollten von Letzteren genutzt werden.
Ein scharfer Rundumschlag kam daraufhin von Kada Hotić von den Müttern von Srebrenica. Sie warf die Frage auf, warum nicht bereits Vukovar zu Reaktionen geführt hätte, warum Bosnien (im Gegensatz zu Kroatien) durch ein internationales Waffenembargo die Selbstverteidigung verboten wurde, obwohl die großserbischen Aggressoren den Staat, seine Errungenschaften nach dem zweiten Weltkrieg und die Bosniaken offenbar vernichten wollten. Die Republika Srpska sei eine Schande und eine Belohnung für den Völkermord. Ihrer Ansicht nach habe die internationale Gemeinschaft dabei zugesehen, wie der Kontinent von Muslimen gesäubert werde, die in Europa unerwünscht gewesen seien. Sie zitierte den damaligen Premierminister John Major, der sich ein christliches Europa gewünscht haben soll (das Originalzitat konnte ich nicht finden). Sie betonte ihre Sorge über die aktuelle Situation und teilte mit, dass die Bosniaken in Srebrenica Angst vor neuer Gewalt hätten.
Danach meldete sich Munira Subašić, Vorsitzende der Mütter von Srebrenica zu Wort. Sie betonte, dass der Krieg nicht als Konflikt oder Bürgerkrieg bezeichnet werden dürfe, sondern als Aggression benannt werden müsse und dass dies von Beginn an so hätte passieren müssen. Der Dayton-Vertrag habe Bosnien geteilt und sei auf Kosten der Opfer und zum Nutzen der Täter ausgestaltet, als Beispiel nannte sie Srebrenica, das nach dem Völkermord der Republika Sprska zufiel. Das Gesetz gegen Völkermord-Leugnung (welches die aktuelle Staatskrise auslöste, da die serbischen Vertreter seitdem die Institutionen blockieren und Abspaltungsschritte einleiteten) hätte nach Vorbild des Verbots der Holocaustleugnung früher kommen müssen. Europa und die Welt seien ungerecht gegenüber Bosnien, dies hätte sie im Herzen und in der Seele gespürt, wenn internationale Gäste nach Bosnien kämen und oberflächlich zu einer Versöhnung und einem Blick in die Zukunft, statt in die Vergangenheit aufriefen, ohne die tatsächlichen Dynamiken zu verstehen. Sie empfindet dies offenbar als Angriff auf ihre Erinnerungskultur: Ein Mensch ohne Vergangenheit könne keine Zukunft haben. Sie hätte sich außerdem mit niemandem gestritten, sondern sei angegriffen worden. Sie arbeite trotzdem gut mit serbischen, kroatischen, Roma-Müttern zusammen. Eine Versöhnung sei also nicht nötig, wichtiger sei die Frage, ob sie verzeihen könne. Ein Spiegel-Reporter habe sie das kürzlich gefragt, die europäischen Vertreter jedoch nie. Europa habe nichts gelernt, dass merke sie u.a daran, dass in letzter Zeit immer mehr Faschisten auch in den höchsten Institutionen auftauchten. Die Bilder aus der Ukraine raubten ihr, als Frau die 22 Familienmitglieder im Völkermord verloren hat, den Schlaf. Die Ungerechtigkeiten, die sie bis heute ertragen müsse, kenne nicht einmal Gott selbst.
Auch Munira Subašić durfte ich treffen, ich übersetze für ein Interview der österreichischen Filmemacher. Ihre Ausführungen bewegten mich sehr. |
Auf die Fragen der Mütter wurde nicht eingegangen, der Moderator nannte es ein starkes Schlusswort und beendete hastig das erste Panel. Zusammenfassend kann die Dynamik zwischen dem Publikum und dem Podium als eindrückliches Beispiel dienen, wie die Realitäten der Bosnier und internationalen Beobachter noch immer in sehr unterschiedlichen Blasen stattfinden und wie die tatsächlich Betroffenen nicht gehört worden, oder ihre Klagen zumindest größtenteils konsequenzlos bleiben, während internationale Vertreter viel Raum zur Eigenprofilierung einnehmen.
Es folgten noch zwei anderen Panels über kulturelle, journalistische, jugendliche und jüdische Perspektiven. Besonders in Erinnerung blieb mir dabei eine Aussage des ehemaligen Bürgermeisters von Sarajevo Ivo Komšić, der das Verständnis von Diversität in Bosnien mit jenem in anderen europäischen Ländern verglich. Er stellte Ghettoisierung und Assimilation einem Verständnis von Diversität als identitätsstiftend gegenüber: „Ich bin Katholik, das ist meine Moschee, wir können gar nicht ohne diese Diversität leben“.
Weitere diskutierte Fragen, die ich hier nur noch zusammenfassend aufzähle, waren unter anderem:
- Inwiefern durch mediale Berichterstattung und die internationale Strafgerichtsbarkeit Abschreckung möglich sei
- die UNO im neuen Konflikt der Systeme und eine fälschliche Ansicht des Westens, nach dem kalten Krieg käme nur noch Fortschritt
- das dysfunktionale Erbe von Dayton, die Limitation militärischer Interventionen auf die Herstellung von Ordnung (nicht Gerechtigkeit oder Konfliktlösung)
- Humor und Kunst als widerständige Praxen
Eine Aufnahme der gesamten Veranstaltung ist hier zu finden. Ich ermutige dazu, sich zumindest für die englisch untertitelten Passagen die Zeit zu nehmen, denn die geäußerten Ideen lassen sich problemlos auch auf Kontexte außerhalb des Balkans anwenden. Falls zusammenfassende Übersetzungen bestimmter bosnisch-sprachiger Teile von Interesse sind, bitte ich um Kontaktierung, ich werde diese gerne zur Verfügung stellen.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen