Aktion, Reaktion, Schuld

Putin schickt Panzer und Truppen.
Neuste Eskalation in der Ukrainekrise und anderen Konflikten.
Wer hat "angefangen" ?
Wer trägt schuld?

(Viele meiner Annäherungen an das Thema sind philosophischer Natur. Erwartet also nicht auf alles klare Antworten.)

"Russland und Putin haben in der Ukraine lediglich auf eine aggressiv-expansive NATO reagiert und wurden dadurch quasi in die aktuelle Rolle gedrängt"

Eine These der mittlerweile viele zustimmen würden, da der Unmut gegen die eigenen Regierungen im Westen nach Guantanamo, der Irak-Lüge, NSA, zerstörerischer Sparpolitik in der EU, Bankenmacht, die jeglicher Demokratie widerspricht etc. etc., auf einem Höhepunkt ist.
Das Vertrauen ist quasi tot, nichts wundert mehr, überall werden Korruption und Willkür irgendwelcher Eliten vermutet.
Verständlicherweise.

Doch kann man mit der anfänglichen These wirklich eine nun immer offensichtlichere Unterstützung von chaotischen bewaffneten Verbänden durch Putin rechtfertigen, die eine Verfassung ausgerufen haben, die nur so vor Nationalismus und Klerikalismus strotzt, in der Homosexuelle kriminalisiert werden und die nun auch noch um eine Todesstrafe ergänzt wurde?

Wer verortet da noch ernsthaft die Freiheit und Demokratie, die gerne mal als Aushängeschild benutzt werden?

Freiheit, die laut Putin in Russland angeblich herrsche, im Gegensatz zur Heuchelei im Westen, der als Feindbild dient.

Wie soll dies noch als alleinige Schuld des Westens und bloße, alternativlose Reaktion hingestellt werden?

Oder sind Putin da etwa „die Hände gebunden“ weil er ohne eine Unterstützung der Separatisten seinen Einfluss in der Ukraine an einen aggressiven Westen verlieren würde?

Muss er den Separatisten also quasi gegen seinen eigenen, toleranten und friedvollen Willen beistehen?

Da ja so gerne Vergleiche gezogen werden wie der mit Schottland oder dem Kosovo, da der Irak und sonstige Länder erwähnt werden, ziehe ich nun auch einige Vergleiche:

Würde ein vernünftiger Mensch sagen, Al Quaida ist einzig und alleine schuld an Guantanamo?

Würde jemand dieser Propaganda glauben, die von den Menschenrechtsverletzungen ablenken soll?

Oder dass die israelische Luftwaffe 100% der Schuld für tote Zivilisten einfach so von sich weisen kann, weil sie vorher von der Hamas aus einem bestimmten Gebiet beschossen wurde?

Sicher: Ohne Al Quaida hätte es Guantanamo vll. nicht gegeben, wie es die Ukraine-Krise angeblich ohne NATO-Expansion nicht gegeben hätte und es die toten palästinensischen Zivilisten nicht ohne Hamas-Raketen gegeben hätte.

Wie es aber ohne westlichen Kolonialismus im Nahen Osten vll. Al Qaida gar nicht gegeben hätte und ohne Hitler wahrscheinlich weder die NATO noch das heutige Israel. Die geschichtliche Kette ließe sich bis in die Prähistorie zurückverfolgen.
Wo zieht man eine Grenze?
Jeder könnte sich doch so irgendwie seine Rechtfertigung zu Recht rücken.
Und das geschieht tatsächlich auch, es gibt die wildesten Argumentationsketten, jede Konfliktpartei hat eine andere.

Aber der Westen zwingt Putin im Endeffekt ebenso wenig diese verblendeten und ungebildeten Menschen in der Ostukraine "Befreier eines neuen Russlands" zu nennen und offenbar Truppen und Panzer zur Eskalation zu schicken, wie Bin Laden mit gezogener Waffe George Bush zwang Menschen in Guantanamo zu foltern.

Es werden zu Recht Bush und die US-Regierung für Guantanamo beschuldigt, (da ihnen in dieser Hinsicht eben zu keinem Zeitpunkt wirklich die Hände gebunden waren und dies nur als Ausrede dienen soll.)

Schuld und Verantwortung trägt zunächst immer zu Recht derjenige, der direkt schwere Menschenrechtsverletzungen begeht, begünstigt oder in Kauf nimmt bzw. Unschuldige tötet.

Erst einmal unabhängig irgendwelcher Vorgeschichten.

Denn Mord und besonders Krieg sind in meinen Augen für vernünftige Menschen nie alternativlos!

Nichts kann in meinen Augen einen Freifahrtschein für Gewalt bieten und wenn sie doch im Notfall begrenzt angewendet werden muss, dann nur Hand in Hand mit ständiger Selbstreflexion und Diskussionsbereitschaft.

Ein nachgewiesener Mörder aus niederen Beweggründen wird dementsprechend nie von jeder Schuld befreit, auch wenn gewisse Umstände eine Teilschuld anderswo verorten können.
Da am Ende er alleine die Mordwaffe eingesetzt hat, und der Ermordete noch leben würde, wenn er sich anders entschieden hätte (sofern er dies konnte)

Wenn nun an den Entscheidungsprozessen viele Menschen beteiligt sind, die allesamt aktiv einer Eskalation zustimmen, muss noch viel mehr Schuld bei den Krieg-Führenden verortet werden, als bei einem einzelnen Mörder, der keine Kontrollinstanz hat.
Die Frage um die sich alle streiten ist nur, wer eskaliert und wer adäquat reagiert.

Selbst wenn nun aber Putin im Angesicht eines aggressiv-expansiven Westens, der sich Macht in der Ukraine erschließen will die Hände gebunden wären und er die Separatisten unterstützen müsste, um nicht an eigener Einflusssphäre zu verlieren.

Wäre alleine diese Einflusssphäre Grund genug um jetzt Truppen zu schicken und das unfreie System, dass die Separatisten etablieren wollen, zu unterstützen?

Natürlich drängt sich ebenso die Frage auf ob die „Anti-Terror-Operation“ der ukrainischen Regierung, durch die auch Unschuldige umkamen, nicht auch ein niederer Beweggrund ist, wenn man die verlorenen Leben in Beziehung zu dem Ziel setzt.
Dadurch aber auch die Frage, wie weit man eine Gegenseite gewähren lässt, bevor niedere Beweggründe zu verständlicher Reaktion und Verteidigung werden um schlimmeres zu verhindern und damit wieder, wer die ursprüngliche Schuld trägt.

Das ganze Dilemma ist natürlich bekannt und man fürchtet eine Verurteilung und fehlenden Rückhalt.
Deshalb wird heutzutage meist versucht eine gute Rechtfertigung für einen Krieg zu finden.
Die beliebtesten sind Selbstverteidigung und der Schutz bedrohter Menschen.

Liegt eines von beiden wirklich vor, kann auch der an ernsthaft ethischem Handeln Interessierte über den begrenzten Einsatz von Gewalt nachdenken. Die Diskussion um den gerechten Krieg entbrennt.
Denn niemand muss sich unterdrücken oder töten lassen und die Ethik lehrt: Nicht-Handeln ist auch ein Handeln. Unterlassene Hilfeleistung kann also ebenso unmoralisch sein.

Daher wurden alle pro-russischen Verbände, die die Krim annektierten und eine nationalistisch geprägte Lebensweise aufzwangen, prompt zu „Selbstverteidigungs-Kräften“ ernannt.

Auch ich bin beispielsweise der Meinung und habe schon darüber geschrieben, dass die aktuelle Situation im Irak nicht so geschehen wäre, wenn die USA ihren Irakkrieg nicht oder durchdachter geführt hätten, und den Menschen nicht jede Perspektive genommen worden wäre.

Es gibt also natürlich Aktion und Reaktion.

Man kann darüber diskutieren, wer welchen Teil der Schuld trägt oder was wofür notwendig ist, um eventuell schlimmeres zu verhindern.
Dennoch würde ich zu Recht als Wahnsinniger gelten, wenn ich sagte "Ich verstehe IS".
Nur weil man die Reaktionen ungebildeter und gewalttätiger Menschen provoziert hat und hätte voraussehen müssen, werden diese Reaktionen noch lange nicht tolerier- oder entschuldbar.
Kollektive Gewalt, besonders wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass völlig Unschuldige zu Schaden kommen - und das passiert in einem Krieg immer-, kann in meinen Augen höchstens in einem echten Verteidigungsfall als legitime Reaktion gewertet werden.

In einem solchen Fall müsste man aber zu Verbrechen und Überreaktion der eigenen Seite stehen, diese scharf verurteilen und alles dafür tun um solches zu verhindern, um mit gutem Beispiel voran zu gehen und zu beweisen, dass man lediglich zur Selbstverteidigung gezwungen wurde, man sich seiner Verantwortung für jedes Menschenleben aber weiterhin bewusst ist.

Nicht viele Kriegsparteien haben dies je glaubwürdig getan.

Wäre Putin wirklich lediglich Opfer und könnte man all seine Handlungen als legitime Reaktion auf NATO-Expansion werten, wären die Beschuldigungen gegen ihn viel leichter zu entkräften.
Ebenso wie es seine Beschuldigungen gegen "den Westen" wären, wenn dieser nie die Menschenrechte verletzte.
Viele nachweisliche Verfehlungen bleiben aber auf beiden Seiten stehen, die nicht zu verzeihen sind, wenn man von Freiheit, Gewaltlosigkeit und Demokratie spricht (was beide Seiten tun), egal welche Rolle die andere Seite dabei spielt.
Es wird damit für beide Seiten leicht, begründete Anschuldigungen gegen die jeweils andere zu erheben, die jedoch meist einseitig verurteilenden Charakter entwickeln.

Und genau das hält uns am effektivsten davon ab ein objektives Bild zu entwickeln, welches für eine konstruktive Positionierung der Zivilgesellschaft und einer daraus folgenden friedlichen Lösung notwendig wäre.

Es herrscht offenbar wieder nur Propaganda-Krieg um Einflusssphären.
Krieg um die Köpfe.
Feindbild-Denken und Abgrenzung, bis hin zu erzwungener Solidarität.
Verrats-Vorwürfe gegen Differenzierte Köpfe, die einen angeblich notwendigen Burgfrieden, der gegen eine Gefahr von außen nötig sei, behindern.

In den meisten Konflikten versucht jede Seite so viele Menschen wie möglich von ihrer Unschuld bei gleichzeitiger, völliger Schuld der anderen Seite, zu überzeugen.
Dabei hat meist keine Seite gänzlich Recht oder Unrecht.
Durch die Anmaßung als einziger im Recht zu sein, werden die Opfer, die durch eigene (Re)Aktion umkamen verleugnet oder als "Kollateralschäden" heruntergespielt.

Durch das gegenseitige Misstrauen muss man im Recht sein und hält ohne zu zögern an seinem harten Kurs fest, um der Gegenseite keine Angriffsfläche durch Zugeständnisse zu bieten.

Niemand lässt sein Pokerface fallen.

Schuld sind immer die anderen, die angefangen haben.
Zu welchem historischen Ereignis die Betrachtung beginnt und wie dieses interpretiert wird, hängt von der Position ab, die man vertreten möchte. Geht man nur weit genug in der Geschichte zurück, kann man sich wie erwähnt alles zu Recht biegen.

Einsicht und Reue gegenüber eigenen Fehlern? In Regierungskreisen seit jeher kaum existent.

Vll. in 50 oder 100 Jahren durch die nächsten Generationen, wenn man versucht zu analysieren, wie es zur Abwärtsspirale der Gewalt kommen konnte.

Es wird propagiert wie in einem Hollywood-Film.

Als gäbe es die good und die bad guys.

Team Putin und Team West.

Und viel zu viele fallen noch immer darauf herein.

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