Gehört der Islam zu Deutschland? Oder: Warum wir uns durch Inflexibilität künstlich Probleme schaffen.

Die neuesten Ausfälle der Unionssprecherin für, man glaubt es kaum, Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Erika Steinbach, veranlassten mich zu diesem Beitrag über die alte Frage um den Kampf der Kulturen.

Ob beispielsweise der Islam zu Deutschland gehört, ist eine Debatte, die seit langem geführt wird und die sich trotz Flüchtlingsthematik weiter im Kreis dreht. In Talkshows sitzen auf der einen Seite meist konservative Politiker wie Frau Steinbach, die auf Integrationsschwierigkeiten und die christlich-Abendländische oder sogar die deutsche Leitkultur verweisen, auf der anderen Menschen mit Migrationshintergrund, die als positive Integrationsbeispiele präsentiert werden. Manchmal werden zusätzlich Videobeiträge eingespielt, in denen schlechter integrierte Menschen zu sehen sind.

Problematisch an den Diskussionen ist, dass mit Begriffen hantiert wird, die sich kaum oder sehr unterschiedlich interpretieren lassen. Was ist „der Islam“, bei über 1,5 Milliarden irgendwie als „Muslime“ gezählten Menschen aus verschiedensten Ländern, Glaubensrichtungen und Kulturgeschichten? Was ist die „deutsche Leitkultur“, die gleichzeitig Menschen wie Jürgen Habermas und Horst Seehofer hervorbrachte?

Von Konservativen wird meist das Bild angestrengt, die Deutschen hätten allesamt feste, gemeinsame Gewohnheiten und Regeln, die bei Ausländern, je weiter man sich „vom Westen“ entfernt, immer verschiedener werden, besonders, wenn sie keine irgendwie gearteten christlich-jüdischen Wurzeln aufweisen können. Konflikte scheinen so quasi vorprogrammiert.

In zahlreichen Kommentarabteilungen im Internet wird außerdem häufig versucht, anhand willkürlich zusammengewürfelter geschichtlicher (Halb)Wahrheiten, Individuen, die einer irgendwie gearteten Gruppe zugeordnet werden, gewisse Eigenschaften zuzuschreiben.
Vergessen wird dabei schnell, dass man sich, bei aktuell über 7 Milliarden Menschen und Hunderttausenden von Jahren Menschheitsgeschichte, in denen nahezu unendlich viel passiert ist, so gut wie jede Theorie zusammenreimen kann, wenn man von der Gegenwart aus auf beliebige, isoliert betrachtete geschichtliche Ereignisse zurückblickt.
Für die Weltbilder vieler dieser Menschen wäre eine Relativierung fester nationaler, religiöser oder sonst wie gearteter Brandzeichen, die ein Mensch mit Geburt erhält, durch die sich die Welt so wunderbar in einfache Muster pressen lässt, unerträglich. Die Konsequenz ist eine Beibehaltung realitätsferner Abstraktionen. Gesehen wird die Gruppe, der man ein Individuum oft willkürlich zuschreibt, statt ein Mensch, der unter verschiedensten Einflüssen stand und steht. Verhalten ist dann ausschließlich durch Herkunft und kulturelle Prägung bestimmt, anstatt zusätzlich durch familiäre Sozialisierung, persönliche Erfahrungen und Gewohnheiten etc., die innerhalb eines Landes schon in einem breiten Spektrum variieren können. Weltbürger, häufig junge Menschen, die bereits in einer globalisierten Welt leben und die Kultur, in der sie selbst aufwuchsen, nicht als non plus ultra verstehen, sondern einen kritischen Blick beibehalten, existieren in dieser Überzeugung nicht.

Es liegt also eine Vereinfachung aus Bequemlichkeit oder Furcht vor Veränderung vor.
Die Furcht ist auch gut zu erkennen, wenn man katastrophisierende Schilderungen vernimmt. Vom Untergang des Abendlandes, der Überfremdung, der Flüchtlingsflut und -Invasion, die Erika Steinbach, zumindest was das politische Establishment der Unionsfraktion angeht, mit ihrem Post von Samstag auf die Spitze trieb, sogar die CSU in Sachen Geschmacklosigkeit übertraf.
Dabei ist Kultur in so vielem doch etwas Freiwilliges, das dann fortlebt, wenn man es selbst praktiziert. In der Realität versucht kein Ausländer irgendeinen Bayer an seiner Bierzeltkultur, einen Thüringer an den Biss in die Bratwurst oder einen Kölner am Besuch des Doms oder Karnevals zu hindern. Er muss aber häufig als Sündenbock herhalten, wenn die eigenen Kinder nicht mehr in die Kirche gehen wollen.
Schon alleine der Vorschlag den Sankt-Martins-Zug, an dem Kinder aller Glaubensrichtungen, die nicht auf institutionalisierte, frühkindliche Bildung oder Betreuung verzichten möchten, teilnehmen sollen, umzubenennen, kann bei vielen schon zu Panikattacken und dystopischen Zukunftsvisionen führen, die in hitzig geführte Debatten münden, die jeglicher Vernunft und Besonnenheit entbehren.

Dies führt uns zum nächsten Punkt. Wo auch immer eine Gewohnheit geändert werden soll, um dem Pluralismus in unsere Gesellschaft gerecht zu werden, wittert so mancher den Ausverkauf jahrhundertealter „erhaltenswerter“ Werte und Traditionen. Was ändert jedoch das Kruzifix-Verbot an der Atmosphäre in einem Bierzelt? Der Unterschied zwischen einer Schule und einem Bierzelt ist, dass jemand, dem die Bierzeltkultur nicht geheuer ist, sich von dieser fernhalten kann, ohne dadurch wesentlich an gesellschaftlicher Teilhabe oder Chancengleichheit einzubüßen. Außerdem wird an ein Bierzelt nicht den Anspruch gestellt, im Sinne der Wissenschaften neutral Bildung zu vermitteln und kritisches Denken zu befördern.
Die einfachste Lösung wäre demnach, alle öffentlichen Bereiche, für die gilt, dass ein Fernbleiben nur mit immensen Problemen verkraftbar ist, möglichst von jeglichen Ideologien, religiösen oder dogmatisch vermittelten kulturellen Einflüssen freizuhalten. Überall sonst kann die Kultur, solange sie im rechtlichen und sittlichen Rahmen bleibt, beliebig blühen. Wie stark, hängt davon ab, wie viele sich freiwillig zu ihrer Ausübung hinziehen lassen.
Eine solche Trennung wäre nicht nur im Sinne andersgläubiger Kinder bzw. Kinder andersgläubiger Eltern, sondern auch um das Selbstentscheidungsrecht aller Kinder zu respektieren, auf das viele Konservative beispielsweise bei der Beschneidungsdebatte pochten. Gilt dieses Recht nur bei der Entscheidung über den eigenen Körper? Oder sollte es viel mehr auch das Recht beinhalten, sich ohne Indoktrination, aus einer Vielzahl von Alternativen ein für sich passendes Meinungs- und Weltbild schaffen zu können?

Als ich selbst im Kindergarten war, war der Kirchengang verpflichtend, wenn zu viel nachgefragt wurde, stand am Ende eben „der liebe Gott“. Selbst als jugendlicher wurde mir in der Ganztagsbetreuung verwehrt, den Gottesdiensten fern zu bleiben, mit dem Argument, sie seien doch ökumenisch. Wenn Erziehungsbeauftragte Jahrtausende alte Glaubens- und Gesellschaftsmodelle, die als Gegenteil der Wissenschaft gesehen werden können, als unumstrittene Wahrheit über die Zusammenhänge menschlicher Existenz darstellen, bleibt nicht viel Raum für kritisches Hinterfragen oder alternative Konzepte. Es bedeutet tatsächlich Unfreiheit.
Doch darüber lässt sich mit Konservativen kaum vernünftig sprechen, sind doch die Grundpfeiler des Konservativismus der (meist unkritisch praktizierte) Glaube an erhaltenswerte Traditionen und Gott als letzte Instanz. Die Religion wird also nicht als individuelles Glaubenskonstrukt gesehen, dessen Wahrheit weder be- noch widerlegt werden kann, sondern als tatsächlich vorhandenes Grundprinzip jeglicher Existenz, nach der menschliches Verhalten ausgerichtet werden muss.

So streitet man sich im Grunde hinter der Fassade oft noch immer über den richtigen Glauben und die überlegene Lebensweise, beschwört einen Kampf der Kulturen herauf, in dem man jene Position als bestmögliche erklärt, in die man zufällig hineingeboren wurde.

Viele dieser Probleme wären obsolet, wenn wir auf eine Bekenntnis- keine Abstammungskultur bestehen würden. Statt uns vor einer Person zu fürchten, die nicht in unserer Mitte aufwuchs, können wir uns befreunden, wenn wir die selben Werte teilen, was auch bei unterschiedlicher Herkunft keineswegs unmöglich ist, oder sie als Gesellschaft und Rechtsstaat sanktionieren, wenn fundamentale Werte in einer Weise verletzt werden, in der andere zu Schaden kommen.
So tritt die Frage nach der völlig zufällig durch Geburt bestimmten Abstammung oder der Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe in den Hintergrund.
Die sinnvollste Grundlage dieser gemeinsamen Werte wären wohl die allgemein gültigen Menschenrechte, auf die sich Vertreter aller Länder schon einmal einigten. In Deutschland speziell eignet sich auch die rechtsstaatliche Verfassung. Wichtig ist, dass das Verhalten der Menschen so viel wie möglich, jedoch so wenig wie möglich vorgeschrieben wird, um Bevormundung und Freiheitsbeschränkungen entgegenzuwirken.

Leider ist Deutschland davon noch weit entfernt. Obwohl Deutschland mit Stand 2012 nach den Vereinigten Staaten das zweitbeliebteste Einwanderungsland der Welt ist, streitet man sich weiterhin über diesen Begriff. Aus der Ghettoisierung der beinahe als Nutztier betrachteten „Gastarbeiter“ (ein Begriff, der den Preis Unwort des Jahres verdient hätte) zieht man keine Lehren über Integration als Aufgabe der Einwandernder aber auch der Einheimischen. Stattdessen wird man nicht müde oberflächlich auf Probleme in der Integration hinzuweisen, für die die Schuld immer zunächst und häufig ausschließlich bei den Einwanderern gesucht wird.

Zahlreiche Konservative sehen eine Integration dann gelungen, wenn die Einwanderer „eingedeutscht“ sind, was man schon am Begriff der deutschen Leitkultur erahnen kann, wenn also eine Assimilation stattfand.
Die Folgen davon merkt man an seltsamen Phänomenen, wenn zum Beispiel Ausländer alles tun, um vermeintlichen Erwartungen zu entsprechen und zu gefallen. Die hässlichste Erscheinung dieses Phänomens ist Ausländerfeindlichkeit von Ausländern, die sich als eingedeutscht sehen. Die um ihren Platz fürchten und mit dem Finger auf die „echten, bösen Ausländer“, meist anderen Glaubens, zeigen, um endlich selbst nicht mehr zur Minderheit gehören zu müssen.
Oft fordern Ausländer rigorose Abschiebepraktiken und Null-Toleranz gegen kriminelle Ausländer vehementer als jeder Einheimische, mit dem Argument, sie hätten es selbst geschafft, selbst etwas aufgegeben. Diese Ansichten können dann von Einheimischen reproduziert werden, ohne dass sie sich wirklich verantworten müssen, da sie ja von einem Ausländer stammen, bei dem dann fälschlicherweise genug Empathie und Weitsicht verortet werden, nur weil er irgendwann in einer schemenhaft ähnlichen Situation steckte.  Die Welt wird dann von Fremdenfeinden bis Rassisten aus In- und Ausland in gute und schlechte Ausländer geteilt, jedoch weiterhin viel zu undifferenziert.
Doch müssen Ausländer wirklich so viel aufgeben? Muss Yussuf sich Josef oder Adnan sich Felix nennen, um besser akzeptiert zu werden und größere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben?
Oder sind es lediglich die Ängste vor Veränderung und Knacksen im eigenen, einfachen, gemütlichen Weltbild Unflexibler, ewig Gestriger, die uns vor künstlich geschaffene Probleme stellen, die in Wahrheit gar nicht so schwer zu lösen wären? 

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