Verzerrte Wahrnehmung in der Asyldebatte

Das Bundeskabinett hat heute das sogenannte Asylpaket II auf den Weg gebracht. Es ist ein Sieg für die Rechtspopulisten von PEGIDA, aus der AFD aber auch der Union, vor allem der CSU, die den vergleichsweise flüchtlingsfreundlichen Kurs der Bundesregierung seit Monaten torpedieren. Wohl aus Angst die Wähler könnten ihm entgleiten, griff sogar SPD-Chef Gabriel zu unerwartet drastischen Tönen, die einige seiner Genossen verschreckten.Um das Horrorszenario einer multiplizierten „Asylflut“ gar nicht erst aufkommen zu lassen, entschied sich das Parlament den Familiennachzug einzuschränken.
Dies verstärkt nun einen Effekt, der sich schon vorher abzeichnete, und der jeden Humanisten in diesem Land zutiefst beschämen sollte: Asylbewerber fliehen zurück ins Kriegsgebiet. Denn schon als von den Hetzern die Fragen kamen, wieso vor allem Männer nach Deutschland kommen, wurde ihnen nüchtern erklärt, dass diese als erste die gefährliche Reise auf sich nehmen, um später ihre Familie versorgen oder nachholen zu können.
Scheint dieser Plan nun in sich zusammen zu fallen, legen eben viele nicht den Egoismus an den Tag, der ihnen vorgeworfen wurde, sondern handeln unfassbar, indem sie aus dem friedlichen Deutschland in ein Kriegsgebiet zurückkehren.

Was geschieht hier? Eine Entwicklung, die zwar tieftraurig aber alternativlos ist? Oder war unsere Flüchtlingspolitik zwar von vielen gut gemeint aber am Ende durch das Asylpaket II doch das Gegenteil von gut?

Hört man von einer Vervielfachung der Ausländerzahlen in Deutschland, dreht sich vielen zunächst der Magen um.
Sofort kommen die Ängste vor leeren Staatskassen, kulturellen Auseinandersetzungen, einem Hochschnellen der Kriminalitätsrate.

Aber kommen die Ängste, weil wir diese Erfahrungen gemacht haben oder viel mehr, weil einige Vorkommnisse auf beängstigende Weise interpretiert und politisch instrumentalisiert wurden und weil der irrationalen Angst in der Öffentlichkeit eine viel zu große Bühne geboten wurde?

Man merkt schon an der Fragestellung, wie hier argumentiert werden wird.

Die „massiven Probleme“, von denen AFD und PEGIDA nicht zu reden müde werden, sind zu einem großen Teil vor allem solche in unserer Bürokratie,von unentschlossenem Handeln durch die Regierung und einer hysterisch geführten Debatte.

Obwohl entsprechende Organisationen schon seit Jahren das Leid der Flüchtlinge thematisieren und eine Zuspitzung der weltweiten Konflikte absehbar war, war Deutschland zu beschäftigt mit Eurokrise und NSA-Affäre, um sich vorausschauend auf höhere Asylbewerberzahlen vorzubereiten. Politiker müssen auf das Tagesgeschehen reagieren, welches ihnen die Gesellschaft vorgibt, vorausschauendes Handeln ist unpopulär, da es das Wahlvolk selten interessiert, vor allem, wenn es nicht um Probleme geht, die einen persönlich oder die eigenen Kinder irgendwann angehen könnten.
Das verantwortliche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge räumte Fehler ein. Der subjektive Eindruck, der von Asylkritikern bis Rechtsextremen immer wieder bemüht wurde, unser Land würde völlig unerwartet überrollt, das Boot wäre voll, die Regierung würde sich, zum Scheitern verurteilt, im Wahn an der Herkulesaufgabe „die ganze Welt zu retten“, versuchen, wäre vielleicht gar nicht entstanden.
Dass Asylbewerber in menschenunwürdigen Zuständen in unserem Land leben müssen muss demnach nicht zwingend etwas mit Ressourcen zu tun haben, die nicht da wären.
Generell sind die wenigsten geäußerten Standpunkte mit objektivem Maßstab überprüft. Wir alle sind keine Finanzminister und wenn von unvorstellbaren Ausgaben für die Durchsetzung des Asylrechts die Rede ist, die außerdem stark variieren, haben die wenigsten diese Zahlen in Relation zu den Gesamteinnahmen des Staates und seinen anderen Ausgaben gesetzt.
Was hier gerne gemacht wird, ist Opfergruppen gegeneinander auszuspielen. Es gibt aber nirgendwo überzeugende Anhaltspunkte dafür, dass plötzlich Staat und Bürger ihre Herzen und Geldbeutel für Deutsche Obdachlose öffnen würde, wenn die Grenzen für Flüchtlinge dicht wären.
Ebenso wird selten erwähnt, dass Familiennachzug auch vor dem Asylpaket II nach § 27 Aufenthaltsgesetz meist nicht möglich war, wenn die Familienangehörigen von staatlichen Leistungen abhängig gewesen wären. Sprich man hätte seine Familie erst mit einem geregelten Einkommen nachholen können. Sie wäre nicht von staatlichen Leistungen abhängig gewesen wie alleinige Asylbewerber, bevor sie eine Arbeitserlaubnis bekommen.
Ebenso lässt sich nur subjektiv verzerrt wahrnehmen und entscheiden, ob wirklich kulturelle Unterschiede zu massiven Problemen führen. Indem immer wieder Einzelfälle, auch erlogene, die negativ auffielen, beobachtet werden, ohne sie jedoch zu den nicht auffälligen Ausländern in Beziehung zu setzen, kann nur ein falscher Eindruck entstehen.

Der Kriminalwissenschafter Christian Walburg geht davon aus, dass beim kollektiven Bild von Ausländern vor allem die negativen Beispiele, etwa besonders brutale Verbrechen, im Gedächtnis hängen bleiben und Stereotype verallgemeinert werden. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom sogenanntnen „Ghettodiskurs“.
Auch anderswo ist dieser Effekt zu beobachten. Immer wieder hört man von Menschen, die sich beschweren, dass sie zwar Ärger bekommen, wenn sie einen Fehler machen, eine perfekt ausgeführte Aufgabe jedoch wie selbstverständlich vergeht und nicht anerkannt wird.

Selbstverständlich ist schon das alleinige Vorkommen solcher Einzelfälle ein Problem, dass nicht verschwiegen werden soll und mit dem sich der Rechtsstaat auseinanderzusetzen hat. Es darf uns aber nicht zu urteilen über andere Menschen führen, die wir zur selben Gruppe zählen.
Emotionalisierte Bilder brennen sich stark in unser Gedächtnis ein, das bestätigen auch Hirnforschung und Psychologie. Das Resultat ist Verängstigung und Angst ist bekanntlich kein guter Ratgeber. Darauf basierende Reaktionen sind das Gegenteil einer rational-objektiven Analyse, die wir brauchen, wenn die Effekte von einer Millionen Asylbewerbern nachvollzogen werden sollen.
Dies erkannten auch Polizeibeamte wie Ulf Küch, der in seinem Buch Soko Asyl die These vertritt, dass der „Anteil von Kriminellen (unter Asylbewerbern) prozentual nicht höher als der Anteil von Kriminellen in der deutschen Bevölkerung“ sei. Oder die Polizei Vorpommern-Greifswald, die öffentlich mit Vorurteilen über gestiegene Einbruchszahlen aufräumte.
Auch sozialwissenschaftliche Untersuchungen, die schon vor der Asyldebatte zum Thema erschienen und sich generell auf Ausländer konzentrieren, lassen nur vorsichtige Aussagen zu, die sich keineswegs auf „Ausländer in Deutschland sind generell krimineller als Deutsche“ zusammenfassen lassen.
Bestätigt fühlen sich viele in ihren Ängsten aber durch Aussagen von Menschen, die täglich mit Ausländern zu tun haben oder dies vorgeben, die aber selbst nur subjektiv berichten und in einigen Fällen schlicht negativ vorgeprägt sind.
Berühmt wurde beispielsweise die Polizistin Tania Kambouri, die subjektiv von fehlendem Respekt vor allem bei Muslimen spricht, einem Umstand, der sich nur schwierig objektiv nachprüfen lässt.
Doch man sieht schon an den hier genannten Beispielen: Sogar Menschen mit dem selben Berufsfeld berichten zum Teil von genau gegenteiligen Eindrücken.

Die subjektiv verzerrte Wahrnehmung zeigt sich auch anderswo:
Immer noch denken viele bei organisierter Kriminalität in Deutschland zunächst an arabische Clans, die albanische Mafia oder islamistische Netzwerke.
Bei möglicherweise neuer organisierter Kriminalität nach Heiko Maas natürlich auch an die Silvesternacht in Köln.

Nicht aufgewogen werden diese Eindrücke dann beispielsweise gegen Rockergangs, die Ausländer häufig gar nicht zulassen und die häufig im Rotlichtmilieu mitmischen, wo Frauenrechte oft ein Fremdwort ist, heimische politische Gewalt von links, die meist Sachbeschädigung ist und noch verheerender von rechts,wo Menschenjagden und Pogrome gegen Ausländer seit Jahren Gang und Gäbe sind.
Hört man von Terror, denkt man zunächst an Islamismus und nicht an eine Granate, die letzte Woche auf eine Asylbewerberunterkunft fiel, was der Tagesschau-App nicht einmal eine Eilmeldung wert war, oder an die vielen brennenden Flüchtlingsunterkünfte 2015.
Neben den immer wieder genannten sexuellen Übergriffen auf dem Oktober fest ist auch bemerkenswert, wie der Fall eines erschossenen Mädchens in der Silvesternacht nach wenigen Tagen völlig unterging, da man vor allem über kriminelle Nordafrikaner sprach.

Gemeinsam haben solche Straftäter häufig Perspektivlosigkeit, schlechte Bildung und Ausgegrenztheit.
Soziale Tatsachen, an denen es sich viel eher anzusetzen lohnt, als ständig die Frage zu diskutieren, welche Kultur nun die größten Menschenrechtsverletzer hervorbringt und dabei zu vergessen, dass die Evolution uns Menschen eine hervorragende Anpassungsfähigkeit schenkte, die viel häufiger genutzt wird, als es uns auffällt, wo wir wieder beim Ghettodiskurs wären. Ebenso aber leider auch das Schubladendenken und die Angst vor dem Fremden.

Zuletzt lohnt es sich festzustellen, dass sich der Alltag der meisten Menschen durch ca. eine Millionen neue Mitbürger kaum verändert hat.
Für die meisten Deutschen ist die Asylthematik zwar in den Medien präsent. Im Alltag kann man ihr jedoch meist aus dem Weg gehen. Kein Wunder, so abgelegen wie viele Massenunterkünfte liegen.Tatsächlich machen sich viele von uns unverändert vor allem Gedanken über Partnerschaft, Arbeit und Konsum. Alles Bereiche, die in der Regel in keinster Weise mit Asylbewerbern zu tun haben.
Die Angst, unseren Wohlstand irgendwann teilen zu müssen, reicht aber wiederum häufig für eine Wahrnehmungsverzerrung.
Die Zahlen sagen aber etwas anderes. Stabile Wirtschaft, schwarze null und laut repräsentativen Umfragen sind die meisten Deutschen sehr zufrieden mit ihrem Leben. Nach Chaos klingt das nicht.

Man hörte immer wieder die These, bei PEGIDA und AFD laufen Menschen mit, die sich in einer prekären sozialen Situation befinden und sich von Fremden zusätzlich bedroht fühlen. Damit erklärt man sich in dieser Theorie auch den größeren Zulauf in Ostdeutschland, da dort der Arbeitsmarkt weniger hergibt, mehr Menschen von Armut bedroht sind und der generelle Lebensstandard niedriger ist.
Es würde in die alte Gesetzmäßigkeit passen, dass populistische Parteien immer dann Zulauf bekommen, wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert. Es wäre in größerem Maßstab die Grundregel, dass Menschen ihre Sitten vergessen und zu Angst und Gewalt neigen, wenn die Ressourcen knapp werden. Und auch wenn dies in unserem reichen Land gar nicht zutrifft, wissen wir seit dem Thomas-Theorem, dass Menschen auf Situationen, die sie subjektiv für real halten, auch entsprechend reagieren, ganz egal, wie die objektive Realität aussieht.
Gleichzeitig sind Vergleichsgrößen wichtig. Ein ärmerer Ostdeutscher würde sich in Äthiopien, wo aktuell wieder Hunger droht, nicht so sehr als Verlierer fühlen, wie wenn er zu deutschen Milliardären nach Hamburg Blankenese schielt.


Wollen wir also nicht, dass sich die sozialen Konflikte bis zur Wiederholung schauriger historischer Szenarien hochschaukeln, wollen wir nicht, dass vergleichsweise sehr reiche Menschen aus Angst heraus Schutzsuchende zurück in Kriegsgebiete vertreiben, müssen wir vor allem zwei Dinge tun. Erstens, immer wieder den Vorurteilen die Fakten entgegenstellen, uns immer wieder bewusst machen, dass emotionalisierte Beiträge und Menschen unsere Wahrnehmung zu verzerren drohen und dass man immernoch am besten damit beraten ist, objektiven Zahlen zu vertrauen, die meist eine ganz andere Sprache sprechen, als die Populisten.
Und zweitens, uns für eine bessere Sozialpolitik einsetzen. In dem Monat, in dem wir erfuhren, dass 62 Menschen so viel besitzen wie 50 % der Weltbevölkerung und wie erwähnt in Äthiopien eine Hungerkrise droht, während in Deutschland immer noch rund die Hälfte der genießbaren Lebensmittel im Müll landet, sollten wir einige dringende Fragen auf die politische Agenda setzen. Wir müssen eine Situation echter Chancengleichheit und sozialer Integration bisher benachteiligter Bevölkerungsgruppen schaffen, ohne dass Hilfsbedürftige gegeneinander ausgespielt werden. Wir müssen soziale Ungleichheit im Keim ersticken.
Die meisten Menschen wollen arbeiten. Sollte jemand trotzdem nicht fähig sein, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, müssen wir ihn kurzfristig mittragen, langfristig die Barrieren abbauen, die ihn an der Selbstbestimmung hindern,wie beispielsweise Diskriminierung oder Vetternwirtschaft, womit nicht nur verwandtschaftliche Beziehungen gemeint sind.
Keinesfalls darf aber die Entwicklung voranschreiten, die sich aktuell abzeichnet. Dass unsere Politiker, statt mutig auf die Fakten zu beharren, vor den rechten einknicken und versuchen subjektiv-verzerrte Angst- und Hassgefühle auf dem Rücken der Schwächsten zu beseitigen. 

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